»Viel los da draußen«, murmelt Nick mehr zu sich selbst, als er das gewichtige Zweirad zum Seitenausgang schiebt, der durch eine Tür auf den Parkplatz führt. Er stülpt sich den Helm über und zieht ihn fest.
»Wir müssen sie überraschen«, meint Philip und rollt seine schwarze Harley ebenfalls zur Tür. Sein Magen knurrt vor Hunger und Nervosität, als er sich den Helm aufsetzt. Das letzte Mal, dass sie etwas zwischen die Zähne bekamen, ist inzwischen fast vierundzwanzig Stunden her. Philip steckt den Stahlstab zwischen Lenker und Frontscheibe, damit er jederzeit griffbereit ist. »Los, Schatz. Auf geht’s!«, ruft er Penny zu, die schüchtern mit ihrem Kinderhelm ein wenig abseits steht. »Wir machen eine Spritztour – okay?«
Brian hilft der Kleinen auf den Sozius, einen gepolsterten Sitz über dem schwarz lackierten Staufach, in dem er sogar einen Sicherheitsgurt findet. Er schnallt ihn um ihre schmale Taille und spricht ihr ermutigend zu. »Keine Sorge, Kleine! Das wird schon alles.«
»Zuerst geht es Richtung Süden, und dann biegen wir nach Westen ab«, meint er und steigt auf. »Nicky, fahr mir einfach hinterher.«
»Alles klar.«
»Alle Mann bereit?«
Brian tritt zur Tür und nickt nervös. »Alles klar.«
Philip startet seine Harley. Der Motor heult auf und füllt den Ausstellungsraum mit Abgasen. Nick steigt ebenfalls auf den Kickstarter, und zusammen singen die beiden Motoren eine laute Arie in dissonantem Einklang, die den Raum erfüllt. Philip dreht am Gas und gibt Brian ein Zeichen.
Brian zieht den Riegel heraus und reißt die Tür auf. Der Wind fegt ihnen um die Ohren. Philip legt den ersten Gang ein und schießt ins Freie.
Brian springt auf Nicks Sozius, und die beiden machen sich ebenfalls auf den Weg.
»MIST! VERDAMMT! PHILIP! PHILIP! SCHAU NACH UNTEN! SCHAU VERDAMMT NOCH MAL NACH UNTEN! NACH UNTEN!«
Brians hektisches Gebrüll wird von seinem Helm gedämpft und vom lauten Motorengeräusch völlig übertönt.
Es passiert Sekunden, nachdem sie durch eine Horde Beißer auf der Kreuzung gerast sind. Die Leichen wurden vom Vorbau der Harleys in die Luft geschleudert. Nach einer Linkskurve sausen die Männer auf der Water Street Richtung Süden und lassen die Scharen Untoter hinter sich, als Brian vor sich auf die Straße blickt und eine verstümmelte Leiche sieht, die von Philips Harley mitgeschleppt wird.
Die untere Hälfte der Kreatur gibt es nicht mehr. Ihre Eingeweide wehen im Wind wie flatternde Kabel, aber der Oberkörper funktioniert noch, und der vermodernde Kopf ist auch noch ganz. Mit den beiden toten Armen hält sich das Ding an der hinteren Stoßstange der Harley fest und beginnt, sich langsam aber sicher hochzuarbeiten.
Weder Philip noch Penny merken etwas.
»HOL AUF, NICK! FAHR NEBEN IHM HER!«, brüllt Brian, die Arme um den Fahrer geschlungen.
»VERSUCH ICH DOCH!«
Sie schießen die menschenleere, nasse Nebenstraße entlang, und die Motorräder drohen, auf dem Wasser ins Schlingern zu geraten. Endlich bemerkt Penny die Kreatur, die sich verkrampft festhält und immer höher klettert. Penny fängt an zu schreien und gestikuliert wild wie eine Schauspielerin in einem Stummfilm.
Nick dreht am Gas und holt Philip allmählich ein.
»HOL DEN BASEBALLSCHLÄGER RAUS!«, brüllt er über den Motorenlärm hinweg, und Brian versucht, den Schläger aus ihrem Gepäck zu ziehen.
Jetzt hat auch Philip bemerkt, dass er einen blinden Passagier an Bord hat. Nick hat weiter aufgeholt. Er ist keine zwei Meter mehr vom Rücklicht der schwarzen Harley entfernt. Aber ehe Brian etwas mit dem Baseballschläger ausrichten kann, sieht er, wie Philip den Stahlstab aus seiner behelfsmäßigen Scheide zwischen Lenker und Bike zieht.
Mit einer raschen, brutalen Bewegung, welche die Harley ins Schwanken bringt, dreht sich Philip, den Lenker in der linken Hand, um und schlägt den Stahl mitten in den Rachen der untoten Kreatur.
Der aufgespießte Kopf des Monsters hält, nur wenige Zentimeter vor Penny, inne. Doch der Stahlstab ist nun zwischen den glänzenden Auspuffrohren der Harley eingeklemmt, und die Kreatur hängt noch daran. Philip zieht das rechte Bein an und tritt mit der Wucht eines Rammbocks auf den halben Leichnam und den Stahlstab, sodass beides lose kommt. Das Wesen verliert den Halt und fällt auf die Straße. Nick muss ein wildes Ausweichmanöver hinlegen, damit es sich nicht stattdessen an seiner Harley festhält.
Philip gibt Gas und fährt weiter Richtung Süden ohne einen Blick zurück.
Und so geht’s weiter im Zickzackkurs durch das südliche Atlanta. Sie wollen immer auf Nebenstraßen bleiben und nicht über große Kreuzungen fahren. Nach eineinhalb Kilometern stoßen sie jedoch auf eine Hauptverkehrsstraße mit wenigen Wracks und einer überschaubaren Anzahl von Zombies. Also biegt Philip dort ab. Immerhin haben sie bereits fünf Kilometer zurückgelegt.
Der Horizont ist unverbaut, und im Westen hellt es sogar ein wenig auf.
Sie haben genug Benzin für gute sechshundert Kilometer, ehe sie die Bikes erneut auffüllen müssen.
Was sie in der ländlichen, grauen Landschaft erwartet mag, kann nur besser sein als das, was sie in Atlanta hinter sich gelassen haben.
Es muss besser sein.
Niemand wählt das Böse, weil es böse ist;
man verwechselt es lediglich mit Glückseligkeit,
mit dem Guten, nach dem man sich verzehrt.
Mary Wollstonecraft-Shelley

In der Nähe des Hartsfield Airport hört es endlich auf zu regnen. Über ihnen schimmern die Wolken noch immer silbrig metallisch und hängen weiterhin tief. Die Temperatur ist zwar deutlich zurückgegangen, aber es fühlt sich trotzdem gut an, innerhalb einer knappen Stunde so weit gekommen zu sein. Der Highway 85 ist weniger verstopft als die Interstate 20, auf der sie gekommen waren, und die Anzahl von Beißern hat sich ebenfalls merklich verringert. Die meisten Gebäude zu ihrer Linken und Rechten sind noch unversehrt, die Fenster und Türen verriegelt und mit Brettern vernagelt. Die wenigen umherstreunenden Untoten stolpern durch die Gegend, als ob sie zur Landschaft gehörten. Das ganze Land scheint infiziert zu sein, sämtliche Städte sind tot. Als sie so dahinfahren, können sie sich eines Gefühls der Trostlosigkeit nicht erwehren. Trotzdem kommt es ihnen nicht wie das Ende der Welt vor.
Das einzige drängende Problem, vor dem sie stehen, ist die Tatsache, dass jede Tankstelle oder jeder liegen gebliebene Tanklaster vor Beißern nur so wimmelt. Außerdem macht sich Brian Sorgen um Penny. Bei jedem Zwischenhalt – entweder, um sich zu erleichtern oder um nach Essen zu suchen – wirkt ihr Gesicht abgespannter, und ihre kleinen Lippen sind rissiger. Brian befürchtet, sie könnte dehydrieren. Verdammt, sie alle haben schon viel zu lange nichts mehr getrunken.
Ein leerer Bauch ist eine Sache – man vermag lange Zeit ohne Essen auszukommen –, aber ohne Wasser kann die Lage rasch kritisch werden.
Fünfzehn Kilometer südwestlich von Hartsfield hat sich die Landschaft zu einem Flickwerk aus Kiefernwäldern und Sojabohnenfeldern aufgelockert. Brian überlegt inzwischen, ob sie nicht vielleicht das Wasser aus den Motorradkühlern trinken könnten. Auf einmal sieht er ein grünes Schild in der Ferne, auf dem die lang erwartete Ankündigung »Raststätte – 2 km« steht. Philip gibt ein Zeichen, die nächste Ausfahrt zu nehmen.
Als sie den Berg zum Parkplatz hinauftuckern, neben dem eine kleine Touristeninformation steht, fällt Brian ein Stein vom Herzen. Weit und breit ist niemand zu sehen – weder Lebende noch Tote.
Читать дальше