»Zeit, dass wir uns auf die Socken machen«, meint Philip locker und läuft zum Spielplatz. Sein Gang ist schwer und hat etwas beinahe Mechanisches an sich.
Brian eilt ihm hinterher. Plötzlich drängt sich ihm der Gedanke auf, dass sein Bruder, dessen muskulöse Arme an den Seiten herabhängen und auf dessen Schultern die Sorgen der Welt zu lasten scheinen, beinahe selbst ein Zombie sein könnte.
Sie fahren und fahren. Hauptsache weg von Atlanta. Immer wieder kommen sie an kleinen Städtchen vorbei, die so still in der Landschaft liegen, als ob sie Modellbauten in einem Museum wären. Das blaue Licht der Abenddämmerung zieht seinen Schleier über den bewölkten Himmel, und der Wind schlägt eiskalt gegen ihr Visier, während sie Autowracks und menschenleeren Wohnwagen ausweichen. Sie befinden sich noch immer auf dem Highway 85. Brian überlegt. Sie müssen bald ein Nachtquartier suchen.
Auf dem Sitz hinter Nick hat Brian mit tränenden Augen und dröhnenden Ohren vom Rauschen des Windes und dem Geräusch des Doppelnockenwellenmotors der Harley genügend Zeit, sich die perfekte Bleibe für den erschöpften Reisenden im Land der Toten vorzustellen. Er träumt von einer riesigen Festung mit Gärten und Wachtürmen. Er würde seine linke Hand für ein Steak mit Pommes geben. Oder für eine Flasche Cola. Selbst ein Stück des Fleisches, das die Chalmers immer aufgetischt haben …
Etwas spiegelt sich auf der Innenseite seines Visiers wider und reißt ihn abrupt aus den Gedanken.
Er wirft einen Blick über die Schulter.
Merkwürdig. Für einen winzigen Augenblick verspürte er etwas in seinem Nacken – flüchtig wie ein Kuss kalter Lippen. Es passierte genau im selben Moment, in dem er einen dunklen Punkt über sein Visier huschen sah. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubt, auch etwas im Seitenspiegel gesehen zu haben – und zwar kurz bevor Nick nach Süden lenkte.
Er wirft erneut einen Blick nach hinten, sieht aber nichts als die leere Straße, die sich durch die Landschaft schlängelt und hinter einem Wäldchen verschwindet. Er zuckt mit den Achseln und widmet sich erneut seinen Fantasien.
Sie fahren immer tiefer ins Hinterland, bis sie an kaputten Farmhäusern und wilden Landstrichen vorbeikommen. Die sanfte Hügellandschaft mit ihren Bohnenfeldern fällt nach links und rechts ab. Das hier ist alte Erde – prähistorisch, müde und über Generationen hinweg zu Tode bewirtschaftet. Die Überreste alter Maschinen liegen überwachsen tief im Morast der Felder.
Die Dämmerung weicht langsam der Nacht, und das Grau des Himmels verfärbt sich zu einem tiefen Indigoblau. Neunzehn Uhr. Brian hat die Sache mit der Spiegelung in seinem Visier inzwischen vergessen. Sie müssen sich langsam um eine Unterkunft kümmern. Philip schaltet sein Licht ein. Das Motorrad wirft einen silbrigen Strahl auf die länger werdenden Schatten.
Brian will den anderen gerade Bescheid geben, dass sie nicht mehr viel Zeit haben, um etwas zu finden, aber Philip kommt ihm zuvor. Er gibt ein Handzeichen, ehe er nach rechts deutet. Brians Blick folgt der Geste nach Norden, und er sieht, worauf es sein Bruder abgesehen hat.
In der Ferne vor den Hügeln kann man die Silhouette eines Hauses erkennen. Es ist noch so klein, dass es wie aus Papier gemacht aussieht. Wenn ihn Philip nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, wäre es Brian nicht aufgefallen. Jetzt aber weiß er, warum es Philip darauf abgesehen hat. Es scheint eines dieser alten Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert, vielleicht sogar aus dem achtzehnten Jahrhundert zu sein – wahrscheinlich das ehemalige Herrenhaus einer Plantage.
Erneut bemerkt Brian etwas, das in seinen Augenwinkeln vorbeihuscht. Diesmal hat er auch einen Blick im Seitenspiegel erhascht … Es ist hinter ihnen und schnellt für den Bruchteil einer Sekunde durch sein Blickfeld.
Dann ist es wieder verschwunden, und Brian dreht sich auf seinem Sitz, um einen Blick über die Schulter zu werfen.
Sie nehmen die nächste Ausfahrt und schießen dann einen staubigen Feldweg entlang. Während sie sich dem Haus nähern, das einsam auf einer Hügelkuppe eines Gebirgsausläufers einen knappen Kilometer vom Highway entfernt steht, fährt Brian die Kälte so sehr in die Knochen, dass er zittern muss. Auf einmal erfüllt ihn eine Vorahnung, obwohl das Haus immer einladender aussieht, je näher sie kommen. Dieser Teil von Georgia ist für seine Pfirsich-, Feigen- und Pflaumenplantagen berühmt, und als sie die Auffahrt zum Haus entlangfahren, wird es immer offensichtlicher, dass es sich hier um ein in die Jahre gekommenes Prachtexemplar eines Herrenhauses handelt.
Von Pfirsichbäumen umsäumt, die sich wie die Speichen eines Rads mit dem Haus in der Mitte in die Landschaft hineinziehen, steht das zweistöckige Ziegelsteingebäude mit seinen kunstvoll verzierten Dachgauben und Dachfenstern und einem Dach, das bei einer alten, verfallenen italienischen Villa nicht fehl am Platz gewesen wäre, majestätisch da. Die Veranda ist ein fünfzehn Meter langer Säulenvorbau mit Balustraden und Fenstern, die gerade noch unter dem sprießenden Efeu und der Bougainvillea hervorlugen. In dem dahinschwindenden Licht erscheint das Gebäude wie ein Geisterschiff, das noch aus den Zeiten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg stammen könnte.
Der Lärm und die Abgase der Harleys wirbeln die staubige Luft auf, als Philip vor das Haus fährt, wo ein Springbrunnen aus Marmor steht; das Becken ist schon seit langem nicht mehr gesäubert worden. Rechts befinden sich mehrere Außengebäude, die Stallungen sein könnten. Ein mit Hirsegras überwachsener Traktor steht in der Nähe, während zur Linken der Villa ein Kutschenhaus in die Höhe ragt, in das locker sechs Autos passen.
Brian registriert diesen Überfluss alten Geldes allerdings überhaupt nicht, als sie sich langsam einer Seitentür zwischen Garage und Villa nähern.
Philip bremst und wirbelt eine große Staubwolke auf. Er schaltet den Motor ab und mustert das lachsfarbene Ziegelgebäude. Nick kommt neben ihm zum Stehen und klappt den Ständer herunter. Niemand sagt ein Wort. Philip steigt ab und wendet sich an Penny. »Warte hier auf mich, Liebling.«
Nick und Brian steigen ebenfalls ab und strecken sich.
»Hast du den Baseballschläger zur Hand?«, fragt Philip, ohne die beiden anzuschauen.
»Glaubst du, dass da noch jemand ist?«, will Nick wissen.
»Man weiß nie.«
Philip wartet, bis Nick den Baseballschläger geholt hat, der zwischen Rahmen und Staufach seiner Maschine klemmt. Er reicht ihn Philip.
»Ihr bleibt bei Penny«, verkündet Philip und geht auf die Veranda zu.
Brian ergreift den Arm seines Bruders und hält ihn fest.
»Philip …« Brian will ihm von den dunklen Schatten erzählen, die über Visier und Seitenspiegel gehuscht sind, entscheidet sich dann aber dagegen. Er ist sich nicht sicher, ob Penny das hören soll.
»Was ist denn schon wieder?«, fährt Philip ihn an.
Brian schluckt. »Ich glaube, wir werden verfolgt.«
Die ehemaligen Bewohner der Villa gibt es hier schon seit langem nicht mehr. Drinnen sieht es so aus, als ob sie bereits Jahrzehnte vor Ausbruch der Plage ausgezogen wären. Vergilbte Laken hängen über den antiken Möbeln. Viele Zimmer sind leer, staubige Mahnmale einer anderen Zeit. Eine Standuhr tickt leise im Salon vor sich hin, und Zeugen einer längst vergangenen Ära schmücken die Villa: kunstvoll gearbeiteter Stuck, Fenstertüren und eine riesige Rundtreppe sowie zwei Kaminsimse mit Feuerstellen, so groß wie begehbare Kleiderschränke. Unter einem Laken lugt ein Flügel hervor, unter einem anderen eine uralte Musiktruhe, und ein drittes Laken ist über einen Holzofen geworfen.
Philip und Nick suchen das obere Stockwerk nach Zombies ab, finden aber nichts weiter als staubige Überreste des Alten Südens: eine Bibliothek, ein Flur voller Ölgemälde von Generälen der Konförderierten in vergoldeten Rahmen, ein Kinderzimmer mit einer verstaubten alten Wiege, die noch aus Kolonialzeiten stammt. Die Küche ist überraschend klein – ein weiteres Überbleibsel aus dem neunzehnten Jahrhundert, als noch Sklaven oder Bedienstete das Kochen erledigten. Doch die Regale der gigantischen Speisekammer brechen beinahe unter der Last verstaubter Konserven zusammen. Jegliches Getreide und Reis sind bereits mehlig und voller Maden und Würmer, aber die Auswahl an konservierten Früchten und Gemüse ist atemberaubend.
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