In dem tanzenden Licht der Flammen sieht Brian, dass Philip nicht mehr weinen kann. Sein Gesicht ist von echter Verzweiflung gezeichnet. Brian sagt noch immer kein Wort, sondern nickt nur stumm.
Es ist inzwischen Anfang November. Sie warten ab, um zu sehen, was das Wetter macht.
Ein eiskalter Schneeregen fegt eines Morgens über die Obstplantage. Wenige Tage später legt sich der Frost über die Felder und verdirbt die übrig gebliebenen Früchte an den Bäumen. Obwohl sich der Winter in großen Schritten nähert, machen sie keine Anstalten, die Villa zu verlassen. Schließlich ist hier ihre beste Chance, die bevorstehende harte Zeit zu überleben. Sie haben genügend konservierte Lebensmittel, um sich mit etwas Umsicht monatelang über Wasser zu halten. Holz ist auch da, um warm zu bleiben, und die Obstplantage scheint zumindest in der unmittelbaren Umgebung relativ frei von irgendwelchen Beißern zu sein.
Philip macht den Anschein, als ob es ihm jetzt besser gehen würde, da er seine Schuld offen ausgesprochen hat. Brian behält das Geheimnis für sich. Er denkt oft darüber nach, spricht aber nie wieder davon. Die beiden Brüder kommen mittlerweile besser miteinander aus, und selbst Penny scheint sich in dem neuen Leben, das sie langsam, aber sicher entwickeln, einigermaßen wohl zu fühlen.
Sie findet ein altes Puppenhaus in einem der Zimmer im ersten Stock und richtet sich und ihren kaputten Spielsachen eine Ecke im oberen Flur ein. Als Brian eines Tages die Treppe hochkommt, entdeckt er die kaputten Puppen ordentlich nebeneinander daliegen, ihre fehlenden Gliedmaßen neben ihnen aufgereiht. Er betrachtet eine Zeit lang das kleine Leichenschauhaus, ehe Penny ihn anspricht. »Los, Onkel Brian«, sagt sie. »Du kannst der Arzt sein … Du kannst mir helfen, sie wieder heil zu machen.«
»Gute Idee«, erwidert er nickend. »Die kriegen wir schon wieder hin.«
Ein anderes Mal hört Brian früh am Morgen ein Geräusch aus dem Parterre. Er geht die Treppe hinab zur Küche und sieht Penny, die auf einem Stuhl steht und von oben bis unten mit Mehl bedeckt ist. Sie hantiert mit Töpfen und Pfannen. Etwas, das wie Pfannkuchenteig aussieht, ist in ihr verfilztes Haar geschmiert. Die Küche gleicht einem Katastrophengebiet. Kurz darauf kommen Philip und Nick herunter, und die drei Männer stehen in der Tür und sehen Penny an. »Nicht böse sein«, verkündet sie und wirft ihnen einen Blick über die Schulter zu. »Ich mache alles wieder sauber.«
Die Männer schauen sich gegenseitig an. Seit Wochen muss Philip endlich wieder einmal lachen. »Wer soll dir denn böse sein? Wir sind nicht böse, sondern haben Hunger. Wann gibt es Frühstück?«
Die Tage vergehen, und sie treffen Vorkehrungen. Von jetzt an machen sie nur noch nachts Feuer, da man so den Rauch vom Highway aus nicht sehen kann. Philip und Nick bauen einen Zaun aus Bindedraht, den sie zwischen hölzernen Pfeilern straffziehen. Sie hängen leere Dosen an die Drähte, um sie vor etwaigen Eindringlingen zu warnen – ganz gleich, ob es sich um Beißer oder normale Menschen handelt. Auf dem Dachboden finden sie zudem eine alte Zwölfkaliber-Büchse mit Doppellauf.
Die Flinte ist mit einem feinen Staubfilm überzogen und mit Putten verziert. Sie sieht so aus, als ob sie einem das Gesicht zerfetzen würde, falls man auf die Idee käme, sie zu gebrauchen. Aber es gibt keine Munition. Philip glaubt dennoch, dass sie von Nutzen sein könnte. Schließlich sieht sie bedrohlich genug aus.
»Man kann nie wissen«, sagt er und lehnt die Flinte an den Kaminsims, ehe er es sich auf der Couch gemütlich macht und sich mit mehr Sherry betäubt.
Die Tage vergehen mit formloser Regelmäßigkeit. Mittlerweile sind sie alle ausgeschlafen, erkunden die Obstplantage und ernten die gerade noch essbaren Früchte. Sie stellen sogar Kastenfallen in der Hoffnung auf, das eine oder andere Tier zu fangen. Eines Tages finden sie tatsächlich einen abgemagerten Hasen. Nick meldet sich freiwillig, das Tier zuzubereiten, und zaubert dann geschmorten Hasenbraten auf dem Holzofen.
Währenddessen laufen ihnen nur wenige Beißer über den Weg. Eines Tages ist Nick gerade dabei, eine halb verdorrte Pflaume von einem Baum zu pflücken, als er einen herumwandelnden Untoten in Latzhose im Schatten des benachbarten Hofes sieht. Ruhig klettert er vom Baum runter, schleicht sich an den Beißer heran und rammt ihm eine Heugabel mit aller Wucht in den Hinterkopf, als ob er einen Ballon kaputt machen wollte. Ein anderes Mal macht sich Philip gerade am Traktor zu schaffen, als er einen verstümmelten Leichnam in einem der Wassergräben in der Nähe entdeckt. Mit zerfetzten Beinen, die sie mühsam hinter sich her zieht, scheint sich die Frau kilometerweit bis hierher geschleppt zu haben. Philip nimmt die Sense und trennt ihr kurzerhand den Schädel ab, bevor er die Überreste mit etwas Treibstoff aus dem Traktor verbrennt.
So einfach geht das.
In der Zwischenzeit scheint sich die Villa genauso an sie zu gewöhnen wie sie sich an das altehrwürdige Gebäude. Sie nehmen die Laken von den opulenten Möbeln, und schon wirkt alles wesentlich wohnlicher. Mittlerweile hat jeder sein eigenes Zimmer bezogen, und obwohl sie immer noch von Albträumen verfolgt werden, gibt es nichts Wohltuenderes, als die Treppe herunterzukommen und in die alte, elegante Küche zu treten, die von den Strahlen der Novembersonne erhellt wird. Dazu duftet es nach Kaffee, der die ganze Nacht über auf dem Ofen vor sich hingeköchelt hat.
Abgesehen von dem wiederkehrenden Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, ist alles ziemlich perfekt.
Die Ahnung, beobachtet zu werden, bestätigt sich für Brian schon ziemlich rasch – genauer gesagt in der zweiten Nacht ihres Aufenthalts. Er ist an diesem Abend in sein Zimmer im ersten Stock gezogen – einem schlichten Nähzimmer mit einem Himmelbett und einem Kleiderschrank aus dem achtzehnten Jahrhundert –, als er plötzlich mitten in der Nacht aufschreckt.
Er träumte, als Schiffbrüchiger auf einem Floß mitten in einem Ozean von Blut zu schwimmen, als er plötzlich einen Lichtstrahl sieht. Im Traum glaubte er einen fernen Leuchtturm erspäht zu haben, der ihn zu sich lockt, um ihn vor dem unendlichen Meer aus Blut zu erretten. Doch als er aufwacht, merkt er, dass er ein echtes Licht in der richtigen Welt gesehen haben muss – wenn auch nur für eine Sekunde. Es war ein rechteckiges Licht, das über die Decke wanderte. Doch kaum blinzelte er, war es verschwunden.
Er ist unsicher, ob er nicht nur geträumt hat. Aber jede Faser in seinem Körper drängt ihn dazu, aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Er folgt seinem Drang und starrt in die tiefe, schwarze Nacht hinaus. Im Nachhinein könnte er schwören, ein Auto gesehen zu haben, das keinen halben Kilometer entfernt ist und am Ende des Feldwegs vor dem Highway umdrehte. Dann ist es wie vom Erdboden verschwunden.
Danach ist es für Brian so gut wie unmöglich, in jener Nacht noch ein Auge zuzumachen.
Als er Philip und Nick am nächsten Morgen davon erzählt, tun sie es als nichts weiter als einen Traum ab. Wer zum Teufel sollte schon vom Highway abbiegen, um dann wieder umzudrehen und weiterzufahren?
Doch der Verdacht erhärtet sich für Brian während der nächsten eineinhalb Wochen. Nachts sieht er immer wieder Lichter auf dem Highway oder am anderen Ende der Obstplantage. Manchmal kann er in den frühen Morgenstunden sogar das Knirschen von Reifen auf Kies hören. Zumindest könnte er darauf schwören, es gehört zu haben. Doch die Tatsache, dass er allein diese Geräusche wahrnimmt und zudem zu den unmöglichsten Zeiten, ist schier unerträglich für ihn. Er kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Villa langsam, aber sicher umzingelt wird. Da die anderen seine Mutmaßungen jedoch weiterhin als Verfolgungswahn abtun, hört er auf, ihnen davon zu erzählen. Vielleicht bildet er sich ja wirklich alles nur ein.
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