Für Brian Blake vergehen die nächsten fünf Minuten wie in einem verwirrenden Traum. Hinter sich hört er weitere Schüsse. Kugeln sausen durch das Laub, während er tiefer in die rettende Dunkelheit taucht, die das schummrige Morgenlicht noch nicht durchdrungen hat. Brians geschundene nackte Füße tun ihm mit jeder Sekunde mehr weh. Sie versinken im weichen Boden aus herabgefallenem Laub und fauligen Früchten. Er weiß vor Panik nicht aus noch ein. Penny zittert bei jedem Schritt und keucht vor Angst. Brian hat keine Ahnung, wie weit oder wohin er rennen oder ob er besser warten soll. Er läuft also immer weiter in die schützende Dunkelheit der Bäume hinein.
Nach ungefähr zweihundert Metern kommt er zu einem großen, umgefallenen Baumstamm, hinter dem er mit Penny in Deckung geht.
Keuchend holt er tief Luft. Sein Atem ist in der kalten Morgenluft gut sichtbar. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er stellt Penny sanft auf den Boden neben sich.
»Immer schön geduckt bleiben, Kleines«, flüstert er ihr zu. »Vor allem musst du ganz, ganz still sein. Okay?«
Der Schusswechsel hört einen Augenblick lang auf, und Brian riskiert einen Blick über den Baumstamm. Durch eine Reihe von Pfirsichbäumen sieht er, wie eine Gestalt in etwa hundert Metern Entfernung auf sie zueilt.
Seine Augen haben sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er einen der fremden Männer erkennen kann. In einer Hand hält er ein Gewehr, das er offenbar jederzeit abzufeuern bereit ist. Dann sieht Brian, wie eine Gestalt auf den ersten Mann zusprintet.
Er geht erneut hinter dem Baumstamm in Deckung und wägt panisch sämtliche Alternativen ab. Wenn er jetzt losläuft, wird man ihn zweifelsohne bemerken. Wenn er sich jedoch nicht vom Fleck rührt, wird irgendwer mit Sicherheit über ihn stolpern. Wo zum Teufel sind Philip und Nick?
Plötzlich hört Brian in einer anderen Richtung das Brechen von Ästen. Jemand taucht hinter dem ersten Mann auf und wird immer schneller.
Erneut lugt Brian über den Baum und erkennt die Silhouette seines Bruders – etwa fünfzig Meter von ihm und Penny entfernt –, der durch das Unterholz auf den ersten Kerl zu schleicht. Brian läuft es eiskalt über den Rücken, und sein Magen verkrampft sich vor Panik.
Da sieht er, wie sich Nick Parsons aus dem Schatten auf der anderen Seite mit einem Stein in der Hand erhebt. Er wartet einen Augenblick und wirft dann das grapefruitgroße Geschoss dreißig Meter quer durch die Obstplantage.
Der Stein trifft mit einem lauten Knall auf einen Baum, sodass der Verfolger mit dem Gewehr verdutzt stehen bleibt.
Er dreht sich um und drückt in Richtung des Aufpralls ab. Der Schuss lässt die Obstplantage erzittern, und Penny schreckt zusammen. Brian duckt sich wieder. Zuvor sieht er noch, wie ein Schatten auf den Mann zuschnellt, ehe dieser eine Chance hat, einen zweiten Schuss auf die Buche abzufeuern.
Philip Blake taucht aus dem Gestrüpp auf und schwingt die antike Flinte. Der Gewehrkolben trifft den Schützen so hart mitten auf den Hinterkopf, dass er beinahe aus seinen Schuhen fliegt. Er lässt das Gewehr fallen und sackt wie ein nasser Sack auf moosbedeckten Boden.
Brian wendet sich ab. Er legt Penny eine Hand über die Augen, während Philip rasch und beinahe barbarisch dem Schädel vier weitere Hiebe verabreicht, um ganz sicherzugehen, dass der andere für immer schachmatt ist.
Die Verhältnisse haben sich nun fast unmerklich verändert. Philip entdeckt eine kleine Achtunddreißiger mit kurzem Lauf im Gürtel des Mannes. Dazu eine Tasche Munition und einen Schnelllader, und Nick und Philip fühlen sich besser. Brian schaut gebannt aus fünfzig Metern Entfernung zu.
Er atmet erleichtert auf. Ein Funken Hoffnung blitzt in ihm auf. Sie können sich jetzt aus dem Staub machen und wieder von vorne anfangen. Auf jeden Fall stehen die Chancen wesentlich besser als zuvor, den Tag zu überleben. Doch als Brian seinem Bruder und Nick signalisiert, zu ihm zu kommen, erstarrt er vor Schreck, als er Philips Miene in dem blassen Morgenlicht bemerkt. Panik breitet sich in Brians Eingeweiden aus.
»Wir werden diese Wichser allemachen«, knurrt Philip. »Bis auf den Letzten werden wir sie ausrotten.«
»Aber, Philip! Was, wenn wir einfach …«
»Wir holen uns unsere Villa zurück. Sie gehört uns, und die werden es nicht überleben.«
»Aber …«
»Jetzt hör mir gut zu.« Etwas in Philips Augen lässt Brian erschauern. »Du musst meine Tochter in Sicherheit bringen – ganz gleich, was passiert. Verstehst du, was ich sage?«
»Ja, aber …«
»Das ist deine Aufgabe – nicht mehr und nicht weniger.«
»Okay.«
»Pass gut auf sie auf. Schau mir in die Augen. Kannst du das für mich tun?«
Brian nickt. »Klar. Logisch, Philip. Aber ich will nicht, dass ihr euch in den Tod stürzt.«
Philip antwortet nicht. Er reagiert nicht einmal, sondern starrt ihn nur an, während er das Gewehr lädt und sich dann an Nick wendet.
In wenigen Augenblicken sind die beiden kampfbereit und verschwinden zwischen den Bäumen. Brian bleibt wieder allein mit Penny und ohne Waffe zurück. Er ist vor Angst gelähmt und panisch vor Unentschlossenheit. Seine nackten Füße bluten. Will Philip, dass er hierbleibt? Was ist eigentlich der Plan?
Ein Schuss hallt durch den Hain. Brian zuckt zusammen. Es folgt ein weiterer, dessen Echo über den Wipfeln widerhallt. Brian ballt die Hände so stark zu Fäusten, dass sie beinahe zu brechen drohen. Soll er einfach nur dasitzen und abwarten?
Er zieht Penny eng an sich. Ein weiterer Schuss ertönt. Diesmal näher. Ihm folgt ein gedämpftes, wässrig klingendes Würgen wie bei einem Todeskampf. Brians Gedanken beginnen erneut zu rasen.
Schritte kommen näher. Brian wagt einen raschen Blick über den Baumstamm. Es ist der Glatzkopf mit seiner Neun-Millimeter-Glock, die er wild durch die Gegend schwenkt.
Er steuert direkt auf sie zu, das vernarbte Gesicht vor Rage verzerrt. Der leblose Körper des dürren Jungen Shorty liegt dreißig Meter entfernt von ihm. Der Kopf ist halb weggeblasen.
Ein neuer Schuss hallt durch den Wald. Brian duckt sich hinter den Baumstamm. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er ist sich nicht sicher, ob es den Glatzkopf erwischt hat oder ob er derjenige war, der schoss.
»Los, Kleine«, flüstert Brian der erstarrten Penny zu, die sich im Gestrüpp zusammengeduckt hat. »Wir müssen jetzt von hier weg.«
Er zieht sie aus dem Unterholz und nimmt ihre Hand, da es zu gefährlich ist, sie auf dem Rücken zu tragen. Hastig zerrt er sie fort – fort von den Schüssen.
Sie kriechen zwischen den Pfirsichbäumen hindurch, wobei sie stets im Dickicht weitab von den Wegen bleiben, die durch die Obstplantage führen. Brians Fußsohlen sind so geschunden und eisig, dass er kaum noch etwas spürt. Plötzlich hört er Stimmen hinter ihnen, einige Schüsse und dann Stille.
Eine lange Zeit über weht lediglich der Wind durch die Äste. Ab und zu glaubt er rasche Schritte zu hören. Ganz sicher ist er sich aber nicht, da sein Herz so laut hämmert. Entschlossen arbeitet er sich mit Penny durch den Hain.
Nach weiteren hundert Metern stehen sie vor einem alten Heuwagen, hinter dem sie in Deckung gehen. Brian ringt nach Luft und drückt Penny eng an sich. »Alles okay, Kleines?«
Penny streckt ihm ihren Daumen entgegen, aber die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Plötzlich dringen ungewohnte Geräusche an Brians Ohr. Er erstarrt, duckt sich aber dann und späht durch die Bretter des Heuwagens. Ungefähr fünfzig Meter vor ihnen läuft eine Gestalt durch einen Wassergraben. Sie ist groß gewachsen und schlaksig und hält ein Gewehr in einer Hand. Dummerweise ist sie noch zu weit entfernt, als dass Brian mit Sicherheit sagen könnte, um wen es sich handelt.
»Daddy?«
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