Pennys Stimme lässt Brian zusammenzucken, auch wenn es kaum mehr als ein Flüstern ist – aber immerhin laut genug, um sie zu verraten. Er legt dem Kind die Hand auf den Mund, ehe er wieder hochblickt, um erneut einen Blick auf die Gestalt in dem Graben zu werfen.
Doch der Mann, der auf sie zukommt, ist nicht der Vater des kleinen Mädchens.
Der Schuss zerfetzt den halben Heuwagen. Brian wird in einer Wolke aus Staub zu Boden geschleudert. Er spuckt Erde und fasst so lange nach Penny, bis er endlich einen Zipfel ihres Oberteils erwischt. Hastig kriecht er tiefer in den Hain, Penny stets hinter sich. Nach ein paar Metern rappelt er sich auf die Beine. Jetzt sollte es wieder schneller vorangehen. Aber irgendetwas stimmt nicht.
Das kleine Mädchen macht keinerlei Anstalten mehr, sich selbstständig zu bewegen, so als ob es das Bewusstsein verloren hat.
Brian hört das Knirschen von Schritten hinter sich und wie das Gewehr erneut geladen wird. Der nächste Schuss soll tödlich sein. Panisch nimmt er Penny auf den Rücken und rennt dann so schnell er kann auf die nächsten Bäume zu. Es dauert nicht lange, bis er merkt, dass er blutverschmiert ist. Das Blut rinnt über sein Shirt und durchtränkt es.
»Um Gottes willen, nein! O Gott, o Gott, o Gott …« Brian legt Penny sanft auf den weichen Untergrund. Ihr blutleeres Gesicht ist kreidebleich. Ihr Augen sind glasig und starren in den Himmel. Sie zuckt, schluckt mehrmals, und ein rotes Rinnsal fließt ihr aus dem Mundwinkel.
Brian hört den Killer kaum noch, wie er sich mit raschen Schritten nähert, die zweite Patrone einlegt und durchlädt. Pennys T-Shirt ist von dem scharlachroten Lebenssaft völlig durchnässt. Er entdeckt die Stelle, an der die Schrotkugeln wieder aus ihrem Körper ausgetreten sind. Die Wunde hat einen Durchmesser von etwa fünfzehn Zentimeter. Schrot aus einer Zwanzig-Kaliber-Patrone hat genügend Durchschlagskraft, um Stahl zu durchschlagen. Es sieht ganz so aus, als ob das Kind mindestens die Hälfte des Schrots in den Rücken bekommen hätte und die Metallkügelchen aus seinem Bauch wieder ausgetreten wären.
Der Killer kommt näher und näher.
Brian hebt das T-Shirt hoch, und Penny gibt ein qualvolles Stöhnen von sich. Seine Hand reicht nicht, um den Blutfluss zu stoppen. Die klaffende Wunde hat die Form einer Sichel. Er presst die Hand noch stärker darauf, aber das Blut hört nicht auf zu fließen. Panisch reißt er ein Stück ihres T-Shirts ab und versucht, zumindest einige Löcher mit dem Stoff zu stopfen. Doch inzwischen ist das Blut überall. Brian wimmert. Er redet mit Penny, während das Rot durch seine Finger rinnt und der Killer immer näher kommt. »Das wird schon wieder. Du wirst schon wieder. Wir kriegen dich schon wieder hin. Du wirst schon sehen, so gut wie neu …«
Brians Arme und Hüfte werden von ihrem warmen, Lebenssaft bedeckt. Sie flüstert schwach: »… Weg …«.
»Nein, Penny. Nein! Du darfst nicht weg … Lass mich nicht allein, noch nicht, nicht jetzt … Geh nicht!«
Brian hört, wie ein Ast hinter ihm unter dem Gewicht eines Stiefels bricht.
Ein Schatten legt sich auf Penny.
Eine raue Stimme ertönt. »Eine verdammte Schande.« Dann spürt er, wie sich das kalte Ende eines Gewehrlaufs in seinen Nacken bohrt. »Schau sie dir noch einmal genau an.«
Brian dreht sich um und starrt den Mörder an. Es ist ein großer Kerl mit unzähligen Tattoos, einem Bierbauch und einem Bart. Er richtet die Schrotflinte jetzt direkt in Brians Gesicht. »Schau sie dir an … Es wird das Letzte sein, was du in deinem Leben siehst.«
Brian hält die Hand noch immer auf Pennys Wunde gedrückt, weiß aber, dass es zu spät ist.
Sie wird es nicht schaffen.
Mit dieser Gewissheit ist Brian ebenfalls bereit … Jetzt kann er sterben.
Die Explosion hat etwas von einem Traum an sich – als ob Brian plötzlich aus seinem Körper gerissen wird und hoch über die Obstplantage fliegt. Von oben kann er alles wie eine körperlose Seele verfolgen. Er ist bei dem lauten Knall nach vorne gefallen, zuckt aber beinahe im selben Augenblick zusammen. Ein Blutschleier legt sich über seinen Arm und über Penny. War der Einschlag der Kugel aus dieser minimalen Entfernung so katastrophal, dass er nichts mehr spürt? Ist er vielleicht bereits tot, ohne es zu wissen?
Der Schatten des Mörders sinkt wie in Zeitlupe zu Boden.
Brian dreht sich gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass der Bärtige von hinten erschossen wurde. Sein Schädel gleicht rotem Brei, sein Bart ist voller Blut und Gewebe. Die Augen sind zurückgerollt, als er zusammenbricht. Brian starrt auf das Spektakel. Wie ein fallender Vorhang gibt der zu Boden sackende Mann die Sicht auf zwei Gestalten frei, die auf Brian und Penny zulaufen.
»GOTT! NEIN!« Philip wirft das Gewehr – es raucht noch, so heiß ist es – zu Boden, um sich den Weg schneller bahnen zu können. Nick folgt dicht hinter ihm. Philip stößt Brian beiseite. »NEIN! NEIN!«
Philip fällt neben seinem sterbenden Kind auf die Knie. Penny droht jetzt am eigenen Blut zu ersticken. Er hebt sie hoch und berührt zärtlich die klaffende Wunde, als ob es nur ein Kratzer wäre – nichts Schlimmes, nur eine Schürfwunde. Er zieht das Mädchen an sich und umarmt es, während das Blut weiter aus seinem Körper strömt.
Philip wiegt sein blutbesudeltes Kind in den Armen hin und her.
Während er die Kleine hält, stößt sie ein paar röchelnde Seufzer aus. Ihr Gesicht ist so weiß und klar wie Porzellan. Philip schüttelt sie. »Schatz … Bleib bei uns … Bleib bei uns … Mach schon … Du musst bei uns bleiben … Bitte … Schatz? Schatz? Schatz?«
Eine grauenvolle Stille erfüllt die bedrückende Szene.
»O Gott«, murmelt Nick und senkt den Blick.
Philip hält sein Kind weiter in den Armen. Es scheint eine halbe Ewigkeit zu vergehen. Nick starrt die ganze Zeit auf den Boden und betet leise vor sich hin. Brian liegt der Länge nach keine zwei Meter entfernt auf dem Waldgrund. Er weint und stammelt unentwegt mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Ich habe es versucht … Alles ist so schnell gegangen … Ich konnte nicht … Es war … Ich kann nicht … Ich kann nicht … Penny war …«
Plötzlich packt ihn eine harte Pranke am Nacken.
»Was habe ich gesagt?«, knurrt Philip und reißt seinen Bruder auf die Füße, ehe er ihn gegen den nächsten Baumstamm schleudert. Brian sackt in sich zusammen.
»Philly! Nein!« Nick will sich zwischen die beiden Brüder werfen, aber Philip schubst ihn so hart beiseite, dass der kleinere Mann zu Boden taumelt. Philip legt die rechte Hand um Brians Hals.
»Was habe ich dir gesagt?« Er knallt ihn erneut mit aller Wucht gegen den Baumstamm. Brians Schädel prallt auf die Rinde, und Wogen aus Schmerz und grellem Licht verschleiern ihm den Blick. Er unternimmt keinen Versuch, sich zu wehren oder zu flüchten. Brian will nur noch sterben. Er will durch die Hände seines Bruders erlöst werden.
»WAS HABE ICH GESAGT?« Philip reißt Brian hoch, ehe er ihn wieder zu Boden schleudert. Eine Schulter wird mit ungeheurer Wucht in Brians Gesicht gerammt, ehe er sich einem Hagel von Tritten ausgesetzt sieht. Er rollt beiseite, und ein Tritt erwischt ihn im Gesicht. Der Tritt ist hart genug, um seinen Unterkiefer zu brechen. Ein weiterer zerfetzt drei Rippen, sodass ein scharfer Schmerz durch seine Seite schießt. Der nächste landet im Kreuz, und schimmernder, greller Schmerz schießt ihm durch das Steißbein. Nach einer Weile spürt Brian die Qualen kaum noch. Ihm bleibt sowieso nichts anderes übrig, als es über sich ergehen zu lassen. Er blickt von oben auf seinen demolierten Körper herab und gibt sich ganz seiner Strafe hin.
Am nächsten Tag verbringt Philip eine Stunde im Geräteschuppen hinter der Villa. Er geht die Sammlung von Waffen durch, welche die Eindringlinge hinterlassen haben, und untersucht sämtliche auch nur andeutungsweise scharfen Werkzeuge und sonstige Gerätschaften, die vielleicht als Waffe genutzt werden könnten. Er weiß, was zu tun ist, aber sich für die Art der Exekution zu entscheiden, ist ihm beinahe unmöglich. Zuerst wählt er die Neun-Millimeter-Semiautomatik. Das geht am schnellsten und ist am saubersten. Dann kommen ihm Zweifel. Soll er wirklich eine Schusswaffe nehmen? Das scheint irgendwie unfair zu sein. Zu kalt, zu unpersönlich. Aber eine Axt oder eine Machete zu benutzen, das bringt er auch nicht übers Herz. Zu schmutzig, zu ungewiss. Was, wenn er nur einen Zentimeter daneben schlägt?
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