Endlich entscheidet er sich für die Neun-Millimeter-Glock. Er schiebt ein neues Magazin in den Griff und sichert es.
Dann holt er tief Luft und geht zur Tür. Dort hält er inne und bereitet sich innerlich auf das Bevorstehende vor. Ab und zu hört er ein Kratzen, welches das Innere des Schuppens zu füllen scheint. Die Villa und das Grundstück sind voller Beißer. Das Gemetzel von gestern hat sie in Scharen angezogen. Philip tritt gegen die Tür.
Eine Frau mittleren Alters in einer schmutzigen Schürze kriegt sie mitten ins Gesicht geknallt. Die Wucht des Schlags lässt sie zurücktaumeln und mit den Armen fuchteln. Aus ihrer verwesten Kehle dringt ein gespenstisches Stöhnen. Philip geht an ihr vorbei. Beiläufig hebt er die Waffe und befördert die Frau ohne innezuhalten mit einem einzigen Schuss in den Schädel ins Jenseits.
Das Echo hallt durch das Anwesen, als die Leiche durch die Kugel zur Seite geschleudert wird, ehe sie zu Boden sackt.
Philip marschiert um die Villa herum und verpasst zwei weiteren Beißern den letzten Segen – einem alten Mann in vergilbter Unterwäsche, vielleicht ein Ausreißer aus einem Altenheim, und höchstwahrscheinlich einem ehemaligen Obstbauern, dessen aufgedunsener, schwärzlicher Körper noch immer in einer verklebten Latzhose steckt. Ohne Aufhebens verpasst er ihnen jeweils eine Kugel und nimmt sich vor, ihre Überreste später mithilfe des Schneeschieberaufsatzes für den Mäher beiseitezuschaffen.
Seit Penny in seinen Armen gestorben ist, sind beinahe vierundzwanzig Stunden vergangen, und die Morgendämmerung enthüllt einen klaren, blauen Herbsthimmel über den Bäumen der Obstplantage. Philip hat beinahe einen ganzen Tag gebraucht, um sich im Klaren zu sein, dass es keinen Ausweg gibt. Jetzt nimmt er die Waffe in die feuchte Hand und betritt den Hain.
Im Magazin stecken noch fünf Kugeln.
Im Schatten der Plantage windet sich eine Gestalt an einem alten Baum. Sie stöhnt und ächzt. Trotz der Tatsache, dass sie mit Stricken und Klebeband festgebunden ist, versucht das gefangene Wesen immer wieder verzweifelt zu fliehen. Philip hebt die Waffe. Er zielt mit dem Lauf genau zwischen die Augen, und für einen winzigen Augenblick wünscht sich Philip nichts mehr, als dass alles ganz schnell vorbei ist. Wunde aufstechen, Tumor entfernen, Operation erfolgreich.
Die Laufmündung fängt zu zittern an, und Philips Finger am Abzug scheint zu erstarren. Er stöhnt auf. Dann murmelt er leise: »Ich kann es nicht.«
Er senkt die Waffe und blickt seiner Tochter in die Augen. Sie steht keine zwei Meter vom ihm an den Baum gebunden und faucht mit dem wilden Hunger eines tollwütigen Hundes. Ihr Porzellanpuppengesicht ist zu einer weißen, verschrumpelten Kalebasse eingesunken, und ihre sanften Augen haben sich zu Silbermünzen verhärtet. Ihre ehemals unschuldigen Lippen sind jetzt schwarz und kräuseln sich unnatürlich vor den schleimigen Zähnen. Sie erkennt ihren Vater nicht wieder.
Das ist es auch, was Philip beinahe den Verstand raubt. Er kann die Erinnerung an Pennys Blick nicht aus seinem Kopf verbannen. Wie sie ihn angesehen hat, wenn er sie vom Kindergarten oder von Tante Nina am Ende eines langen, harten Arbeitstags abgeholt hat. Das freudige Wiedererkennen und die Aufregung in den großen Kinderaugen, wenn sie Philip sah. Und verdammt noch mal, ja! Auch die Liebe, die er darin erkannte. Das reichte, sich ihretwegen sämtliche Gliedmaßen auszureißen. Doch jetzt war dieses Leuchten für immer verloren und durch den grauen Film der Untoten ersetzt worden.
Philip weiß, was er zu tun hat.
Penny faucht.
Philips Augen brennen vor Schmerz.
»Ich kann nicht«, murmelt er erneut und blickt zu Boden. Sie so zu sehen löst einen Zorn in ihm aus – wie der Lichtbogen eines Schweißgeräts, der ihn tief im Innersten trifft. Da hört er wieder die Stimme: Reiß die Welt in Stücke, zerfleische sie, reiß ihr das Herz aus der Brust … Warte nicht, tu es jetzt.
Er verlässt die Obstplantage, wobei es sein Herz vor Verzweiflung und Wut fast zerreißt.
Das Anwesen, das von der milden herbstlichen Morgensonne erwärmt wird, ist ein halbmondförmiges Stück Land mit der Villa in der Mitte. Hinter dem Haupthaus auf einer kleinen Anhöhe steht eine Reihe von Außengebäuden: das Kutschenhaus, ein kleiner Schuppen für den Aufsitzmäher und den Traktor, ein zweiter Schuppen für die Werkzeuge, ein Wagenschuppen auf Pfählen für Gäste und eine große hölzerne Scheune mit einer riesigen Windfahne auf dem Kuppeldach. Dorthin will Philip – zur Scheune, die von Holzwürmern zerfressen ist und von der Sonne zu einem hellen Pink gebleicht wurde.
Er muss unbedingt das Gift loswerden, das durch seine Adern pulsiert. Er muss Dampf ablassen.
Der Haupteingang besteht aus einer Doppeltür, die mit einem riesigen Balken auf Schulterhöhe gesichert ist. Philip reißt den Balken aus den Halterungen und öffnet die quietschenden Türen. Zahllose Staubmäuse fegen durch die Scheune. Philip tritt ein und schließt die Türen hinter sich. Es stinkt nach Pferden und verschimmeltem Heu.
In einer Ecke sitzen zwei Gestalten. Sie winden sich, zappeln herum, gefangen in ihrer eigenen privaten Hölle, an Händen und Füßen gebunden und mit Klebeband geknebelt: Sonny und Cher.
Die beiden zittern auf dem Scheunenboden, den Rücken an den Verschlag einer leeren Pferdebox gepresst. Ihre Zuckungen sind die Folge irgendwelcher Entzugserscheinungen – entweder Heroin oder Crack oder sonst etwas. Aber was geht das Philip an? Das Einzige, was ihn im Augenblick interessiert, ist, dass die beiden keine Ahnung haben, wie schlecht es ihnen gleich gehen wird.
Philip tritt zu dem Duo. Die dürre Frau zuckt spasmisch, ihr Gesicht ist mit einer Kruste getrockneter Tränen und Erde verklebt. Der Mann atmet schwer durch die Nase.
Philip baut sich vor den beiden auf, beleuchtet von einem einzigen staubigen Sonnenstrahl, und starrt wie eine zornige Gottheit auf sie herab. »Du«, sagt er zu Sonny. »Eine Frage: Ich weiß, dass es schwierig ist, mit festgeklebtem Kopf zu nicken. Also einmal Blinzeln für Ja und zweimal für Nein.«
Der Mann schielt mit seinen wässrigen Augen zu ihm auf. Er blinzelt einmal.
Philip blickt ihn an. »Willst du zuschauen?«
Blinzel, Blinzel.
Philip fährt mit der Hand zur Gürtelschnalle und fängt an, den Gürtel aufzumachen. »Schade. Das wird bestimmt eine unvergessliche Vorführung.«
Blinzel, Blinzel.
Erneut zweimal blinzeln.
Zweimal blinzeln, zweimal blinzeln, zweimal blinzeln.
»Immer mit der Ruhe, Brian, nicht so schnell«, sagt Nick am Abend danach im Nähzimmer im ersten Stock. Im Licht der Kerosinlampe hilft Nick Brian beim Trinken durch einen Strohhalm. Brians Mund ist geschwollen und unbeweglich. Die Hälfte des Wassers geht daneben. Nick hat alles getan, um Brian das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Am wichtigsten ist es, dass Brian genügend zu sich nimmt und dass es drinbleibt. »Versuch doch noch mal die Gemüsesuppe«, schlägt Nick vor.
Brian schafft zwei Löffel. »Danke, Nick.« Seine Stimme klingt gepresst. Der Schmerz schwingt hörbar mit. »Danke für alles.« Er lallt. Sein Gaumen ist angeschwollen und entzündet. Er redet zögerlich mit Unterbrechungen, während er im Bett liegt. Seine gebrochenen Rippen wurden verbunden. Das Gesicht und der Nacken sind mit Pflastern übersät, die Augen aufgedunsen und violett. Irgendetwas ist auch mit seiner Hüfte passiert, aber keiner weiß, was es genau sein könnte.
»Das wird schon wieder, Alter«, sagt Nick. »Bei deinem Bruder bin ich mir da nicht so sicher.«
»Wieso?«
»Der ist ausgeflippt.«
»Er hat viel durchgemacht, Nick.«
»Wie kannst du ihn auch noch in Schutz nehmen?« Nick lehnt sich zurück und seufzt gequält. »Schau dir nur an, was er mit dir gemacht hat. Und fang nicht wieder mit Penny an. Wir haben alle bereits Menschen verloren, die wir geliebt haben. Er war kurz davor, dich ins Jenseits zu befördern.«
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