Nick richtet den Strahl auf die Wunden und Entzündungen – manche von ihnen sind bereits alt und halb verfault. Die Brust des Mannes hebt und senkt sich in raschen Abständen. Die Frau bemüht sich, ihre wässrigen Augen auf Nick zu fokussieren. Sie blinzelt wie eine Wahnsinnige.
Ihre Lippen bewegen sich unter dem Klebeband. Nick zieht es vorsichtig von ihrem Gesicht.
»B-b-biiittt-t-t-ttt …« Sie versucht, ihm etwas mitzuteilen, etwas Dringendes, aber Nick versteht kein Wort.
»Es ist alles gut. Wir sind hier, um euch zu helfen. Alles wird gut.«
»T-t-tttö …«
»Was? Ich verstehe nicht …«
Die Frau versucht noch einmal zu schlucken. »T-töte unssss … B-bitte …«
Nick starrt sie an. Sein Magen verkrampft sich. Er spürt, wie ihn etwas an der Hüfte berührt. Es ist die schorfbedeckte Hand der Frau, die nach dem Pistolengriff fasst, der aus Nicks Gürtel ragt. Nick gibt innerlich nach, und sein Herz rutscht ihm bis in die Hose.
Er zieht seine Waffe heraus, steht auf und starrt lange auf die beiden übel zugerichteten Geschöpfe vor ihm.
Dann spricht er ein Gebet. Den dreiundzwanzigsten Psalm.
Brian ist auf dem Rückweg zur Scheune. Er trägt einen Plastikeimer voll Brunnenwasser. Plötzlich hört er zwei gedämpfte Schüsse. Sie klingen wie Feuerwerkskörper, die in Dosen explodieren. Die Schüsse sind kurz und hart. Brian hält mitten im Schritt inne, sodass er etwas Wasser verschüttet. Überrascht stößt er einen leisen Schrei aus.
Da bemerkt er im Augenwinkel, wie ein kleines Licht hinter einem der Fenster im oberen Geschoss der Villa angeht. Philips Zimmer. Der Strahl einer Taschenlampe erscheint und verschwindet wieder, gefolgt von einer Reihe von Schritten die Treppe hinunter und durch das Haus – schnell und zielstrebig. Brian schüttelt sich.
Er lässt den Kübel stehen und rennt über den Hinterhof in die dunkle Scheune. Er sieht einen kleinen silbernen Lichtstrahl und rast auf Nick zu, der sich gerade über die zwei Gefangenen beugt.
Kordid steigt aus dem Lauf der Waffe in Nicks rechter Hand. Sie hängt jetzt locker an seiner Seite herab. Beide Männer starren auf die leblosen Körper vor ihnen.
Brian will gerade etwas sagen, als er den Blick auf die klaffenden Kopfwunden richtet, Blut und Gewebe bilden ein bizarres Gebilde auf der Stalltür, an der die beiden lehnten. Jetzt schimmern die menschlichen Überreste im Schein der Taschenlampe.
Mann und Frau sind tot. Beide liegen in ihrem Blut. Ihre Gesichter wirken fast friedlich, endlich befreit von den Qualen der Folter und der Pein. Brian versucht erneut, etwas zu sagen.
Aber es fehlen ihm die Worte.
Einen Moment später werden die Flügeltore aufgerissen, und ein zorniger Philip stürmt herein. Die Hände sind zu Fäusten geballt, das Gesicht vor Rage verzerrt, die Augen funkeln wahnsinnig. Er rennt durch die Dunkelheit auf das Licht zu. Es sieht so aus, als ob er die beiden verschlingen will. In seinem Gürtel stecken eine Pistole und eine Machete.
Dann wird er langsamer.
Nick hat sich von den Leichen abgewandt, weicht aber keinen Zentimeter zurück, als Philip auf sie zukommt. Brian hingegen tritt einen Schritt beiseite. Eine tiefe Scham erfasst ihn. Es ist, als ob seine Seele entzweigerissen würde. Er starrt zu Boden, als sein Bruder langsam näher kommt, und lässt dann den Blick nervös zwischen den beiden leblosen Körpern und Nick hin und her wandern.
Niemand sagt ein Wort. Philip schaut Brian an, der versucht, seine lähmende Scham zu verbergen. Je mehr er sich jedoch darauf konzentriert, desto schlimmer wird es.
Wenn Brian doch nur den Mut aufbringen könnte, würde er sich den Lauf seiner Pistole in den Mund stecken, um sich zu erlösen. Auf irgendeine perverse Art glaubt er, dass er an allem Schuld hat, aber er ist zu feige, um sich selbst das Leben zu nehmen – wie ein richtiger Mann das tun würde.
Also steht er nur da und weiß vor Scham und Schmach nicht, wo er hinsehen soll.
Die übel zugerichteten Körper der beiden Toten zusammen mit dem unerbittlichen Schweigen seines Freundes und seines Bruders lösen bei Philip etwas aus. Wie bei einer unsichtbaren Kettenreaktion fängt er an, innerlich zusammenzubrechen.
Er kämpft gegen Tränen an und reckt das bebende Kinn. Er verspürt eine Mischung zwischen Trotz und Selbstverachtung. Sein Mund bewegt sich, als ob er etwas Wichtiges mitzuteilen hätte, und doch muss er sich ungeheuer anstrengen, um etwas hervorzubringen. »Wie auch immer.«
Nick glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. Er starrt Philip ungläubig an. »Wie auch immer?«
Philip dreht sich um und geht. Er zieht die Glock aus dem Gürtel, entsichert sie und ballert auf die Bretterwand der Scheune. BUUUUMMMMM! Der Rückstoß fährt durch seine Hand ins Handgelenk, und der laute Knall lässt Brian zusammenzucken. BUUUUMMMMM! Ein weiterer Schuss. Das Mündungsfeuer erhellt kurz die düstere Scheune, und die Kugel zerfetzt einen Teil des maroden Tors. BUUUUMMMMM! Der dritte Schuss landet in den Dachsparren. Schutt, Staub und Heu regnen auf sie herab.
Wütend tritt Philip gegen das Flügeltor und stürmt aus der Scheune.
Dann herrscht Schweigen. Brian hat während der ganzen Zeit nicht aufgeschaut. Auch jetzt lässt er den Kopf gesenkt und starrt trostlos auf das verschimmelte Heu. Nick wirft einen letzten Blick auf die leblosen Körper und gibt ein langes, schmerzvolles Seufzen von sich, ehe er den Kopf schüttelt. »Nicht zu glauben«, sagt er schließlich.
Etwas schwingt in seiner Stimme mit – ein Anflug von Furcht? –, was Brian zeigt, dass sich etwas in ihrer kleinen Patchworkfamilie verändert hat – unwiderruflich für immer.
Was zum Teufel macht er da?« Nick steht am Fenster des Wohnzimmers und starrt in den bewölkten Morgen hinaus.
Am anderen Ende des Vorhofs direkt hinter der Auffahrt zerrt Philip seine Tochter an einer Art Hundeleine aus diversen Teilen, die er im Geräteschuppen gefunden hat, hinter sich her. Von fern sieht es wie ein langes Kupferrohr mit einem Stachelhalsband. Philip zieht Penny hinter sich her zu dem Ford S-10 Pick-up, der auf dem Stück Gras geparkt ist. Der Wagen stammt von Glatzkopf und seiner Bande. Jetzt hat Philip ihn beschlagnahmt und mit Essen, Waffen und Bettzeug beladen.
Penny zischt und knurrt, während sie sich widerwillig durch die Gegend zerren lässt. Sie greift nach dem Kupferrohr und beißt Löcher in die Luft. Im wässrigen Morgenlicht ähnelt ihr totes Gesicht einer lebendig gewordenen Halloween-Maske aus wurmgrauem Ton.
»Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit klarzumachen«, meint Brian, der neben Nick steht und ebenfalls auf die bizarre Szene starrt, die sich draußen abspielt. »Er ist heute Morgen aufgestanden und hat behauptet, dass wir keinen Augenblick länger hierbleiben können.«
»Wieso?«
Brian zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung … Nach all dem, was passiert ist … Ich glaube, die ganze Gegend hier ist für ihn verseucht, voller Geister … Was weiß ich, was in seinem Kopf vorgeht.«
Brian und Nick haben die ganze Nacht über kein Auge zugemacht, sondern Unmengen von Kaffee getrunken und sich über die Situation unterhalten, in der sie sich befinden. Nick glaubt, dass Philip jetzt endgültig durchgedreht ist. Die schreckliche Geschichte mit Penny und der Druck, sich um Brian und ihn zu kümmern, seien einfach zu viel gewesen. Obwohl Nick es nicht klar ausspricht, glaubt er, dass der Teufel nun Besitz von Philip genommen hat. Brian ist zu erschöpft, sich mit Nick über metaphysische Themen zu unterhalten, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die Lage drastisch verschlimmert hat.
»Lass ihn gehen«, meint Nick endlich und wendet sich vom Fenster ab.
Brian wirft ihm einen Blick zu. »Was soll das heißen? Willst du damit etwa sagen, dass du hierbleiben willst?«
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