Brian wirft einen Blick auf seine übel zugerichteten Füße, die aus der Bettdecke herausragen. Mit großer Anstrengung meint er schließlich: »Ich habe alles verdient, was er ausgeteilt hat.«
»Red keinen Quatsch! Es war nicht deine Schuld. Aber die Sache hat etwas bei deinem Bruder ausgelöst, was mir echt Sorgen macht.«
»Der schafft das schon.« Brian schaut Nick an. »Was ist denn los? Irgendetwas beschäftigt dich.«
Nick holt tief Luft und überlegt, ob er sich Brian anvertrauen soll. Die Blake-Brüder hatten schon immer eine komplizierte Beziehung. Nick Parsons verstand sich bisher mehr als Philips Bruder als Brian Blake. Dennoch verbindet die beiden Blakes etwas Besonderes. Es ist ein Bund, der tief in ihnen verwurzelt ist.
Endlich spricht Nick. »Ich weiß, dass du es mit der Religion nicht so hast und denkst, ich spinne ein wenig.«
»Das ist nicht wahr, Nick.«
Nick winkt ab. »Das macht nichts. Mein Glaube ist stark, und ich beurteile niemanden nach seiner Religion.«
»Was willst du damit sagen?«
Nick sieht Brian an. »Er hält sie am Leben, Brian … Leben ist in diesem Fall vielleicht nicht das richtige Wort.«
»Penny?«
»Er ist bei ihr da draußen.«
»Wo?«
Nick erklärt, was während der vergangenen zwei Tage seit Pennys Tod vorgefallen ist. Während sich Brian von den Schlägen seines Bruders erholte, war Philip nicht untätig. Er hält zwei der Eindringlinge – die einzigen, die das Gemetzel überlebten – in der Scheune gefangen und behauptet, er frage sie nach weiteren Überlebenden in der Umgebung aus. Nick aber glaubt, dass er sie foltert. Doch das ist nicht das Schlimmste. Penny Blakes Schicksal macht Nick am meisten zu schaffen. »Er hat sie an einem Baum festgebunden, also quasi angekettet wie ein gefangenes Tier«, berichtet er.
Brian runzelt mit der Stirn. »Wo genau?«
»Draußen auf der Obstplantage. Jeden Abend geht er zu ihr und bleibt eine Weile dort.«
»Gütiger Himmel.«
»Hör zu. Ich weiß, dass du davon nichts hältst, aber ich glaube nun einmal daran. Im Universum gibt es zwei Kräfte. Die eine ist gut, die andere böse.«
»Nick, ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist …«
»Nicht so schnell, lass mich ausreden. Ich glaube, dass die Plage oder wie auch immer du es nennen willst das Werk des Bösen, des Teufels, des Satans ist.«
»Nick …«
»Nein, ich will, dass du mir zuhörst. Ich habe viel darüber nachgedacht.«
»Na gut, ich höre.«
»Was hasst Satan am meisten? Die Macht der Liebe? Vielleicht. Wenn jemand wiedergeboren wird? Ja, auch möglich. Aber ich glaube, wenn jemand stirbt und seine Seele aufsteigt – das ist es, was ihn am meisten wurmt.«
»Verstehe ich nicht.«
Nick erwidert Brians verständnislosen Blick. »Das passiert gerade, Brian. Der Teufel hat einen Weg gefunden, wie er die Seelen auf der Erde behalten kann.«
Brian denkt eine Weile nach. Nick erwartet nicht, dass er ihm glaubt, aber vielleicht fängt er zumindest an zu verstehen, worum es gehen könnte.
Der Nordwind pfeift um die Fensterläden. Das Wetter schlägt um. Die Villa ächzt und stöhnt. Nick stellt den Kragen seines Wollhemds auf – vor einigen Tagen haben sie warme Klamotten auf dem Dachboden gefunden. Er beginnt zu frieren. Es ist kalt im ersten Stock. »Was dein Bruder macht, ist falsch, Brian. Es ist gegen Gottes Willen«, erklärt er. Noch lange hallen seine Worte in der eisigen Luft wider.
Zur gleichen Zeit prasselt draußen in der Dunkelheit der Obstplantage ein kleines Lagerfeuer und wirft seine unheimlichen Schatten in die Umgebung. Philip sitzt auf der kalten Erde vor den Flammen, das Gewehr neben ihm. Auf seinem Schoß liegt ein modriges, kleines Buch, das er in einem Kinderzimmer der Villa gefunden hat. »Lass mich rein, lass mich rein, kleines Schwein«, liest Philip in gequältem Singsang vor. »Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten.«
Einen Meter entfernt, an einen Baumstamm gebunden, faucht und geifert Penny Blake bei jedem Wort. Ihre kleinen Zähne beißen erfolglos in die Luft.
»Bin ganz allein, bin ganz allein, ich lass dich nicht ins Haus herein«, fährt Philip fort und blättert die hauchdünne Seite um. Er hält inne und wirft einen Blick auf das Wesen, das einmal seine Tochter war.
Pennys Gesicht verzerrt sich im flackernden Licht der Flammen vor unstillbarem Hunger. Ihre Fratze ist faltig und aufgedunsen, um die Hüften mit Draht an den Baum gebunden, bebt und windet sich. Sie streckt ihre Finger aus und fasst immer wieder ins Leere.
»Und der Wolf strampelt und trampelt, er hustet und prustet und pustet das ganze Haus zusammen.« Eine qualvolle Pause folgt. Dann liest er mit niedergeschlagener Stimme weiter, in der sowohl Trauer als auch Wahnsinn mitschwingen. »Und er fraß das Schweinchen.«
Philip Blake findet im Laufe der Woche nur wenig Schlaf. Er versucht, zumindest ein paar Stunden pro Nacht zu erhaschen, aber er ist so nervös, dass er sich von einer Seite auf die andere wälzt, bis er aufsteht, um etwas – irgendetwas – zu tun. Die meisten Nächte geht er zur Scheune, um seine unbändige Wut an Sonny und Cher auszuleben. Sie sind die Auslöser, warum sich Penny verwandelt hat, und es ist Philips Aufgabe sicherzustellen, dass sie so sehr leiden, wie noch nie ein Mann oder eine Frau vor ihnen gelitten hat. Die Aufgabe, sie nicht sterben zu lassen, macht ihm zu schaffen. Ab und zu muss Philip ihnen Wasser geben, damit sie am Leben bleiben. Er muss auch aufpassen, dass sie sich nicht selbst umbringen, um ihren Qualen zu entkommen. Wie jeder gute Kerkermeister hält er sie gefesselt und außer Reichweite jeglicher scharfer Gegenstände.
In dieser Nacht aber – Philip glaubt, dass Freitag ist – wartet er, bis Brian und Nick eingeschlafen sind, ehe er aus seinem Schlafzimmer schlüpft, seine Jeansjacke überwirft und die Stiefel anzieht, um sich aus der Hintertür über den mondbeschienenen Hinterhof zu der verwitterten Scheune zu schleichen. Wie immer kündigt er sich laut an.
»Daddy ist wieder da«, flüstert er gespielt freundlich. Sein Atem ist in der kalten Nachtluft zu sehen, als er das Vorhängeschloss abnimmt und die Tore öffnet.
Er schaltet die batteriebetriebene Lampe an.
Sonny und Cher sitzen zusammengesackt in der Ecke, in die er sie gepfercht hat – zwei mitgenommene Geschöpfe, gefesselt wie zwei Schweine, Seite an Seite. Sie sitzen in einer Lache aus Blut und Fäkalien. Sonny ist kaum bei Bewusstsein. Sein Kopf hängt herab, seine Junkie-Augenlider rot umrandet, auch Cher ist wie bewusstlos. Sie liegt neben ihm, ihre Lederhose hängt ihr um die Fesseln.
Sie hören die Geräusche von Philips Folterwerkzeugen – eine Nadelzange, Stacheldraht, Kanthölzer mit rostigen Nägeln und diverse ungehobelte Hölzer und stumpfe Metallgegenstände, die Philip zusammengesammelt hat.
»Aufwachen, meine Liebe!« Philip dreht die Frau auf den Rücken. Die Fesseln schnüren sich in ihre Handgelenke, aber der Strick um ihren Nacken lässt nicht zu, dass sie allzu sehr protestiert. Er verpasst ihr einen Schlag, und ihre Augen öffnen sich für einen Moment. Er verpasst ihr eine weitere Ohrfeige. Jetzt kommt sie zu sich. Ihre Schreie werden durch das Klebeband über ihren Mund hörbar gedämpft.
Irgendwann schafft sie es, ihren blutigen Schlüpfer wieder hochzuziehen, um sich zu bedecken.
»Ich möchte euch noch einmal auf etwas hinweisen«, sagt Philip und reißt ihr den Schlüpfer wieder bis zu den Knien herunter. Er steht über ihr und drückt ihre Beine mit seinen Stiefeln auseinander, um den Weg frei zu machen. Sie windet sich unter ihm, als ob sie aus ihrer eigenen Haut fliehen will. »Ihr seid diejenigen, die mir meine Tochter genommen haben. Also gehen wir auch zusammen in die Hölle.«
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