Eine brennende Stoßstange landet keine fünf Meter von ihnen entfernt auf dem Boden.
Alle schrecken zusammen und reißen die Augen auf. »Verdammt! VERDAMMT!«, schreit Nick und schützt den Kopf mit beiden Händen. Brian hält Penny fest an sich gedrückt. Es hat ihm die Sprache verschlagen, und er ist starr vor Entsetzen.
Philip wischt sich das Gesicht mit dem Handrücken ab und schaut benommen wie ein Schlafwandler, der gerade zu sich kommt, um sich. »Alles klar.« Er wirft einen Blick über die Schulter und wendet sich an Nick. »Und wo ist jetzt dieser Friseur?«
Einen halben Häuserblock weiter südlich – in der Dunkelheit eines fauligen, luftarmen Raums mit Fliesen an den Wänden, inmitten herumfliegender Reste von True-Detective-Magazinen, Kämmen, Staubmäusen aus menschlichem Haar und Tuben mit Haargel – trocknen sie sich die Gesichter an Handtüchern und Friseurkitteln und entdecken weitere Zutaten für ihre Molotowcocktails Marke Eigenbau.
Sie leeren Flaschen mit Haarwasser und füllen sie mit Alkohol, um sie danach mit Baumwollwatte zuzustopfen. Ein alter, von diversen Einsätzen in Mitleidenschaft gezogener Louisville-Baseballschläger steht neben der Kasse. Er hat wohl dazu gedient, unbequeme Kunden oder Raudis abzuschrecken, die sich auf unredliche Weise bereichern wollten. Philip schnappt ihn sich und reicht ihn Nick mit den Worten, weise damit umzugehen.
Sie durchforsten den Laden nach sonstigen Dingen, die ihnen nützlich sein könnten. Ein alter Verkaufsautomat beherbergt einige Schokoriegel, Kuchen mit Cremefüllung und eine uralte Dauerwurst. Während sie die ergatterten Sachen in ihre Taschen stopfen, mahnt Philip, hier keine Wurzeln zu schlagen. Er hört Geräusche von draußen – mehr Tote, die näher kommen, wahrscheinlich von der Explosion angezogen. Der Regen hat nachgelassen, sodass jeder Laut besser zu hören ist. Sie müssen sich beeilen, wenn sie vor Sonnenuntergang aus der Stadt sein wollen. »Los, macht schon«, drängt Philip. »Wir müssen hier raus und zur nächsten Sicherheitszone. Nick, du zuerst.«
Widerwillig führt Nick sie aus dem Friseurladen in den Nieselregen. Erneut drücken sie sich an Schaufensterfronten vorbei. Philip bildet die Nachhut, den Stahlstab gezückt. Er hat ein Auge auf Penny gerichtet, die sich wie ein Äffchen an Brians Rücken festklammert.
Sie haben den halben Weg hinter sich, als plötzlich ein Zombie hinter einem Autowrack erscheint und bedrohlich auf Brian und Penny zuwankt. Philip holt aus und trifft ihn mit dem Hakenende am Hinterkopf – genau über dem sechsten Halswirbel. Er schlägt so hart zu, dass er das Rückgrat durchtrennt. Der Kopf sackt nach vorn und baumelt an Luft- und Speiseröhre auf der Brust. Dann sinkt die Kreatur auf den nassen Pflastersteinen zusammen.
Noch mehr Beißer tauchen aus Gassen und dunklen Türeingängen auf.
Nick sieht das nächste Symbol an der Ecke einer Kreuzung.
Der rote Stern steht über der Glastür eines Geschäfts, dessen Front mit eisernen Gitterstäben gesichert ist. Außer einigen abgerissenen Drähten, kaputten Neonröhren und einem Haufen Klebeband sind die Schaufenster leer. Die Tür ist zwar geschlossen, aber nicht verriegelt – genau wie sie Nick vor drei Tagen zurückgelassen hat.
Er reißt sie auf und winkt die anderen hinein. Sie hasten ins Innere des Geschäfts.
Alle sind derart darauf erpicht, rasch in Sicherheit zu geraten, dass niemand auf das Schild über der Tür achtet, auf dem mit schwarzen kalten Neonröhren geschrieben steht: TOM THUMB’S TINY TOY SHOPPE.
Der kleine Laden, höchstens fünfzig Quadratmeter groß, ist mit bunten Dingen aller Art übersät. Der schmutzige Inhalt umgestürzter Regale – Puppen, Autos und Spielzeugzüge – liegt über den Boden verstreut. Ein Tornado der Verwüstung ist offenbar durch das Geschäft getost. Wo mal Mobiles hingen, baumeln jetzt nur noch vereinzelte Fäden. In den Ecken liegen die Reste von LEGO-Flugzeugen und Bausätzen. Die flauschigen Innereien von Stofftieren werden wie herabgefallenes Laub von dem Wind aufgewirbelt, mit dem die Neuankömmlinge hereinstürmen und die Tür ins Schloss werfen.
Einen Augenblick lang stehen sie triefend nass da und holen Luft. Sie starren auf die Verwüstung, die vor ihnen liegt. Niemand bewegt sich. Etwas fasziniert sie an der ganzen Unordnung und hält sie im Eingang wie gebannt fest. »Niemand rührt sich von der Stelle«, verkündet Philip schließlich, kramt ein Taschentuch hervor und wischt sich den Nacken ab. Er steigt über einen kaputten Stoffbären und dringt dann weiter in den Laden vor. Dort ist eine Tür. Vielleicht führt sie zu einem Lager, vielleicht aber auch nach draußen. Brian läst Penny sanft von seinem Rücken auf den Boden gleiten und untersucht sie nach Verletzungen.
Sie sieht traurig auf die Trümmer enthaupteter Barbiepuppen und zerfetzter Stofftiere.
»Als ich das erste Mal hier war«, erklärt Nick, der seinen Blick durch den Laden schweifen lässt, »dachte ich mir, dass wir hier vielleicht etwas finden – Gadgets, Walkie-Talkies, Taschenlampen … irgendetwas .« Er geht zur Ladentheke und ein paar Stufen zur Kasse hoch. »Mann, so ein Laden und in dieser Gegend … Es würde mich nicht wundern, wenn wir hier sogar eine Knarre finden.«
»Was ist da ?«, fragt Philip und deutet mit dem Daumen auf einen Flur im hinteren Teil des Geschäfts, der mit einem Vorhang abgetrennt ist. Der schwarze Stoff hängt bis zum Boden herab. »Hast du dir das angeschaut?«
»Ist wohl ein Warenlager, aber das ist nur eine Vermutung. Sei vorsichtig, Philly. Da ist es so dunkel und finster wie unter Tage.«
Philip hält vor dem Vorhang inne, streift sich den Rucksack von den Schultern und holt eine Taschenlampe hervor, die er in einer der Seitentaschen verstaut hat. Er schaltet sie ein und schiebt sich durch einen Spalt, um in der Finsternis zu verschwinden.
Penny ist noch immer von den kaputten Puppen und den ausgenommenen Stofftieren fasziniert. Brian behält sie ununterbrochen im Auge. Er will ihr unbedingt helfen und erreichen, dass alle wieder ein Ziel vor Augen haben. Aber im Augenblick kann er nicht mehr tun, als sich neben dem Mädchen hinzuknien und es abzulenken, so gut es geht.
»Willst du vielleicht einen Schokoriegel?«
»Nein.« Ihre Stimme klingt so mechanisch wie die einer Aufziehpuppe.
»Sicher?«
»Ja.«
»Wir haben auch Kuchen – mit Cremefüllung«, lockt Brian, um die Stille zu füllen. Aber er kann den Blick nicht von dem Ausdruck in Philips Gesicht und der brutalen Gewalt in seinen Augen abwenden. Seine Welt – ihre Welt – ist am Zusammenbrechen, das ist eindeutig.
»Nein, mir geht es gut«, erwidert Penny. Unter einem Haufen kaputten Spielzeugs erspäht sie einen kleinen Hello-Kitty-Rucksack. Zielstrebig geht sie darauf zu, zieht ihn hervor und mustert ihn. »Stört es jemand, wenn ich mir paar Sachen mitnehme?«
»Was denn, Kleine?«, will Brian wissen und schaut sie an. »Spielzeug?«
Sie nickt.
Brian verspürt einen Stich von Trauer und Scham in der Brust. »Bedien dich ruhig«, murmelt er.
Sie liest zertrampelte Puppen und ramponierte Stofftiere vom Boden auf. Brian kommt es beinahe wie ein Ritual vor, als sie Barbies ohne Gliedmaßen und Teddybären mit aufgetrennten Nähten mustert und dann die gewissenhaft, ausgewählten Spielzeuge mit einer Vorsicht in ihren Rucksack steckt, als ob sie sich der Verletzungen bewusst wäre. Brian seufzt.
Plötzlich ertönt Philips Stimme aus dem dunklen Korridor im hinteren Teil des Ladens. Brian springt auf und ruft: »Was ist los?«
Hinter der Kasse spitzt Nick die Ohren. »Ich hab keine Ahnung. Hab’s auch nicht verstanden.«
»Philip?« Brian eilt zu dem schwarzen Vorhang. Vor nervöser Anspannung läuft es ihm kalt den Rücken hinunter.
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