Bruce nickt, steckt seine Pistole in den Gürtel und eilt davon.
Dann wendet sich der Governor Martinez zu. »Ich weiß nämlich, woher du den Scheißtaser hast …«
Lilly sitzt neben Martinez. Die Zeit scheint still zu stehen, während sie darauf warten, dass Bruce den Doc und Alice anschleppt. Sie ist von oben bis unten mit diversen Zombieüberresten übersät. Die Wunde in ihrem Bein pocht heftig, und sie erwartet jeden Augenblick eine Kugel durch ihren Kopf. Sie spürt Gabes Körperwärme hinter sich, er kann nur Zentimeter von ihr entfernt stehen. Sie riecht seinen Schweiß, hört sein schweres Atmen, aber er gibt während der ganzen Zeit, während sie auf Bruce warten, keinen einzigen Ton von sich.
Auch Martinez sagt kein Wort.
Der Governor verbringt seine Zeit damit, unablässig auf und ab zu gehen.
Lilly macht es nichts mehr aus, ob sie stirbt oder nicht. Etwas Unerklärliches geht in ihr vor. Sie denkt an Josh, wie er im Boden verrottet, aber sie verspürt keinen Funken Emotion. Dann stellt sie sich Megan vor, wie sie an ihrem behelfsmäßigen Galgen baumelt, aber auch der Gedanke lässt sie völlig kalt. Sie taucht in einen Schleier der Vergessenheit ein, ähnlich wie Bob, der sich allerdings bis zur Bewusstlosigkeit besaufen muss, um den gleichen Zustand zu erreichen.
Aber selbst das kratzt sie nicht mehr.
Und das Schlimmste überhaupt ist: Tief in ihrem Inneren weiß sie, dass der Governor recht hat. Sie brauchen einen Wachhund, der auf die Barrikaden geht. Sie brauchen ein Monster, das die anderen in Schach hält.
Endlich bewegt sich der Knauf, öffnet sich die Tür, und Bruce erscheint mit Stevens und Alice. Der Arzt tritt mit seinem knittrigen Kittel ein, gefolgt von Bruce, der seine Waffe auf den Doc gerichtet hält. Alice folgt ihnen dicht auf den Fersen.
»Immer hereinspaziert! Je mehr wir sind, desto lustiger wird es!«, begrüßt der Governor sie mit einem eisigen Lächeln. »Setzen Sie sich doch, entspannen Sie sich. Einfach die ganze Anspannung abfallen lassen und mal richtig durchatmen.«
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, gehen Alice und Stevens zu den Stühlen neben Lilly und Martinez und setzen sich hin – wie Kinder, die vor den Schulrektor geschickt wurden. Der Arzt sagt kein Wort, starrt nur auf den Boden.
»Jetzt haben wir also alle beisammen«, meint der Governor und geht durch den Raum auf die vier zu. Er hält Zentimeter vor ihnen inne wie ein Trainer beim Halbzeitdonnerwetter. »Ich hätte da einen Vorschlag. Wir treffen ein Abkommen … schließen einen verbalen Vertrag. Ganz einfach. Schau mich an, während ich mit dir spreche, Martinez!«
Es verlangt Martinez ungeheure Selbstbeherrschung ab, den Blick zum Governor zu heben …
… dessen dunkle, funkelnde Augen ihn anstarren. »Und unsere Abmachung lautet wie folgt: Solange ich die Wölfe abhalte und das Volk mit Brot und Spielen bei Laune halte … so lange werde ich nicht hinterfragt.«
Er macht eine Pause, stellt sich vor ihnen auf, wartet, Hände in die Hüften gestemmt. Er blickt einen Verschwörer nach dem anderen mit seinem düsteren, blutverschmierten Gesicht an.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Vor ihrem inneren Auge sieht Lilly, wie sie aufspringt, den Stuhl umstößt und so laut wie nur irgend möglich aufschreit, sich eine Waffe schnappt und den Governor mit einer Salve ummäht.
Aber sie starrt weiterhin auf den Boden.
Niemand rührt sich.
»Ach, und eins noch«, fügt der Governor hinzu und lächelt, aber seine Augen sind wie tot und völlig freudlos. »Sollte sich irgendjemand nicht an die Abmachung halten, die Nase dort reinstecken, wo sie nicht hingehört, wird Martinez sterben und der Rest von euch vor die Tür gesetzt. Habt ihr alle verstanden?« Er wartet, aber niemand öffnet den Mund. »Antwortet mir, ihr Schwanzlutscher! Versteht ihr die Konsequenzen der Abmachung? Martinez?«
Die Antwort ertönt kaum hörbar: »Yeah.«
»Ich habe dich nicht gehört!«
Martinez starrt ihn an. »Yeah, ich habe verstanden.«
»Und wie steht es mit dir, Stevens?«
»Ja, Philip.« In der Stimme des Docs klingt völlige Verachtung mit. »Ein wirklich geniales Schlussplädoyer. Du hättest Anwalt werden sollen.«
»Alice?«
Sie nickt rasch, nervös.
Dann wendet der Governor sich an Lilly. »Und wie steht es mit dir? Verstehen wir uns?«
Lilly starrt weiterhin auf den Boden und gibt keinen Ton von sich.
Der Governor geht einen Schritt auf sie zu. »Ich will, dass wir alle einander verstehen. Lilly, ich werde dich noch einmal fragen. Verstehst du die Abmachung?«
Lilly hält noch immer den Mund.
Der Governor zieht seine mit Perlmutt versehene .45er, entsichert ihn und hält Lilly den Lauf an die Schläfe. Aber ehe er noch den Mund aufmachen oder ihr eine Kugel durch den Kopf jagen kann, schaut sie zu ihm auf.
»Ja, ich verstehe.«
»MEINE LIEBEN DAMEN UND HERREN!« Die näselnde Stimme des Bauernjungen ertönt aus der Beschallungsanlage und hallt durch das Chaos in der Arena. Die Zuschauer haben sich über die Tribünen verteilt. Niemand hat die Arena verlassen. Ein paar Zuschauer liegen im Vollrausch auf dem Rücken und starren in den mondlosen Himmel. Andere reichen Flaschen mit Schnaps durch die Gegend, versuchen, sich von den Bildern des Schreckens und der Verstümmelung zu befreien, die sie gerade mit eigenen Augen in der Arena gesehen haben.
Einige der Besoffenen werfen Müll und leere Flaschen in die Arena, um die angebundenen Beißer weiter anzustacheln, die ihre Arme nach ihnen ausstrecken und an ihren Ketten reißen. Aus ihren Mündern fließt schwarzer Speichel. Die beiden toten Kämpfer liegen zusammengesackt außer Reichweite der Zombies, während die Menge sie unentwegt niederpfeift und ausbuht. So geht das schon beinahe eine Stunde lang.
Jetzt ertönt die Stimme wieder. »DER GOVERNOR HAT EINE SONDERDURCHSAGE FÜR SIE!«
Bei der Ansage hören sie auf, und ihr Gegröle verstummt auf einen Schlag. Die aufgeputschten Zuschauer wanken ungelenk zurück zu ihren Plätzen. Manche stolpern, raffen sich aber wieder auf, und in wenigen Minuten sitzt die gesamte Meute auf den vorderen Rängen der Tribünen vor dem Maschendrahtzaun, der einst die Zuschauer vor Autotrümmern und brennenden Reifen schützte.
»UND JETZT EINEN WUNDERBAREN APPLAUS FÜR UNSEREN FURCHTLOSEN ANFÜHRER, DEN GOVERNOR!«
Dann erscheint eine Gestalt in einem langen Mantel, tritt aus dem Schatten des mittleren Tunnels in den grellen Schein der Flutlichter. Die matschigen, blutbesudelten Rockzipfel seines Mantels wehen im Wind. Er macht den Eindruck eines trojanischen Generals, der gerade von der Belagerung zurückgekommen ist. Er schreitet in die Arena, hält bei den auf dem Boden liegenden, toten Wachen inne, reißt an dem Mikrofonkabel hinter sich, hebt das Mikro hoch und brüllt: »FREUNDE, DAS SCHICKSAL HAT JEDEN EINZELNEN VON EUCH HIERHER VERSCHLAGEN … UND ES IST UNSER SCHICKSAL, DIE PLAGE GEMEINSAM ZU ÜBERLEBEN!«
Die Zuschauer, die meisten von ihnen total besoffen, brüllen begeistert.
»UND ES IST MEIN SCHICKSAL, EUER ANFÜHRER ZU SEIN … UND ICH AKZEPTIERE DIESE AUFGABE UND FÜLLE SIE VOLLER STOLZ AUS! UND FALLS IRGENDJEMAND VON EUCH AUF DEN BILLIGEN PLÄTZEN ES NICHT MAG, DANN KANN ER JEDERZEIT ZU MIR KOMMEN UND DIE HERRSCHAFT AN SICH REISSEN! JEDERZEIT! HAT JEMAND VON EUCH GENÜGEND MUMM, UM UNSER STÄDTCHEN HIER AM LAUFEN ZU HALTEN?«
Die trunkenen Stimmen verstummen, die Gesichter hinter dem Maschendrahtzaun erschlaffen. Jetzt hat er ihre Aufmerksamkeit. Der Wind, der durch das Dach pfeift, untermalt das Schweigen auf den Rängen.
»JEDER EINZELNE VON EUCH SOLL HEUTE ABEND ZEUGE EINER GROSSEN VERÄNDERUNG IN WOODBURY WERDEN, DENN AB SOFORT IST DAS TAUSCHSYSTEM ABGESCHAFFT!«
Jetzt herrscht totale Stille. Die Zuschauer haben so etwas nicht erwartet und starren ihn mit offenen Mündern an, als ob sie an jedem seiner Worte hängen.
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