Martinez bemerkt nicht, wie Gabe hinter seinem Rücken dem Governor eine Knarre in die Pfote drückt. »Wir beide haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen, Martinez«, haucht der Governor gleich darauf Martinez wölfisch ins Ohr und hält ihm den Lauf der Waffe in den Nacken, als der Lieferwagen um eine Ecke holpert.
Martinez stöhnt gequält auf. »Nun, dann. Rede nicht lange, sondern bring es hinter dich.«
»Du hast aber ein Kurzzeitgedächtnis, Junge«, meint der Governor. »Mit der Scheiße, die außerhalb dieser Mauern abläuft, werde ich dich doch nicht einfach den Wölfen zum Fraße vorwerfen, Martinez … Zumindest noch nicht … Für den Augenblick sind wir noch aufeinander angewiesen.«
Martinez antwortet nicht, sondern blickt auf den Wellblechboden des Laderaums und wartet darauf, dass sein Leben ein Ende nimmt.
Sie fahren von Westen nach Woodbury hinein, und Gabe hält vor dem Stadion in einem speziell für Sonderfahrzeuge ausgewiesenen Parkplatz. Der Lärm der Zuschauer hallt von den Tribünen bis an ihre Ohren, aber die Pfiffe und Buhrufe lassen schließen, dass die Kämpfe mittlerweile ins Chaos abgesunken sind. Die Show hat jetzt bereits mehr als eine Stunde ohne ihren charismatischen Ankermann auskommen müssen, aber anscheinend hat niemand den gesunden Menschenverstand an den Tag gelegt, um es entweder zu merken oder nach Hause zu gehen.
Gabe und Lilly steigen aus der Fahrerkabine aus und gehen um den Wagen zum Laderaum. Von Kopf bis Fuß mit Überresten von Zombies bedeckt, das Gesicht voller Blutspritzer, verspürt Lilly ein Gefühl des Unbehagens – irgendetwas stimmt nicht. Sie legt die Hand um den Griff ihrer Ruger, die immer noch in ihrem Gürtel steckt. Sie kann kaum noch richtig denken, scheint von einem Tagtraum in den anderen zu torkeln und ist vor Schock noch immer groggy und außer Atem.
Als sie um die Ecke biegt, sieht sie, wie Martinez ohne Waffe dasteht. Seine Unterarme sind dunkel vor Ruß von dem Mörser, und sein markantes Gesicht ist mit schwarzem Zombie-Blut verschmiert. Hinter ihm steht der Governor und hält ihm den Lauf einer .45er in den Nacken.
Lilly zückt automatisch ihre Ruger, doch ehe sie die Waffe richtig hochheben und zielen kann, faucht der Governor sie an: »Noch eine Bewegung, und dein Freund hier hat die längste Zeit gelebt. Gabe, nimm dem Äffchen das Wäffchen ab.«
Gabe schnappt sich die Ruger, und Lilly starrt den Governor entsetzt an. Plötzlich ertönt eine Stimme aus der Finsternis weit über ihnen.
»Hey!«
Der Governor duckt sich. »Martinez, sag deinem Kumpel da oben, dass hier alles im Lot ist.«
Auf dem Dach des Stadions, in einer Ecke am höchsten Punkt, ist ein Maschinengewehr aufgebaut. Ein langer, mit Kühllöchern versehener Lauf ist auf den Parkplatz gerichtet. Ein junger Mann, ein groß gewachsener Schwarzer aus Atlanta namens Hines, zielt von oben auf sie, hat keine Ahnung von den geheimen Putschplänen gehabt.
»Was zum Teufel geht da vor?«, ruft er. »Ihr seht ja aus, als ob ihr im Krieg wärt!«
»Alles senkrecht, Hines!«, ruft Martinez zurück. »Sind nur auf ein paar Beißer gestoßen!«
Der Governor hält seine .45er außer Sicht, aber weiter auf Martinez gerichtet. »Hey, Kleiner!« Er deutet mit einem Nicken in Richtung Wald. »Tu mir doch den Gefallen und kümmere dich um die letzten paar Streuner, die noch zwischen den Bäumen herumlungern! Wenn du damit fertig bist, warten hier im Lieferwagen noch zwei Leichen auf dich, die einen Kopfschuss brauchen, ehe du sie in die Leichenhalle verfrachten kannst.«
Der Lauf hebt sich, schwenkt, und alle drehen sich schlagartig um, als ein paar Silhouetten unbeholfen von der Baumgrenze ins Freie torkeln – die letzten Zombies, die sich in die Richtung von Woodbury verirrt haben.
Hines drückt ab, und die Mündung des Maschinengewehrs scheint in Flammen aufzugehen. Millisekunden später dringt der Lärm der Schüsse an ihre Ohren. Der Governor benutzt die Ablenkung und drängt Martinez zum Stadion, während die anderen vor Schreck zusammenzucken.
Panzerbrechende Munition zerfetzt die Untoten in tausend Stücke. Anfangs tanzen sie noch wie Marionetten bei einem Erdbeben. Riesige Blutwolken erscheinen, wo gerade noch ihre Köpfe waren. Hines entleert einen ganzen Patronengurt .762er Munition, um auf Nummer sicher zu gehen. Als sie endlich in einem unförmigen, dampfenden Haufen zu Boden sacken, stößt er einen Siegesschrei aus, dreht sich um schaut zum Lieferwagen hinunter.
Aber Martinez und die anderen sind wie vom Erdboden verschwunden.
Glaubt ihr etwa, dass wir hier eine Scheißdemokratie haben?« Der mit Blut besudelte Mantel des Governors streift auf dem Boden, während seine wütende, heisere Stimme von den Wänden in den Katakomben der Arena widerhallt.
Was einmal als Tresorraum für die Rechnungsstelle der Arena diente, beherbergt noch immer den alten, metallenen Safe in der Ecke, der ein Loch an der Seite aufweist. Ansonsten befinden sich noch ein langer, mit unzähligen Kratzern versehener Konferenztisch, ein paar Kalender mit halb nackten Frauen an der Wand, der eine oder andere Schreibtisch und ein paar umgestürzte Stühle im Raum.
Martinez und Lilly sitzen mit dem Rücken gegen die Wand. Sie sind ganz ruhig, scheinen verstört, während die bis an die Zähne bewaffneten Bruce und Gabe sie bewachen. Man kann die Spannung in der ehemaligen Rechnungsstelle förmlich knistern hören.
»Ihr scheint vergessen zu haben, dass es nur einen Grund gibt, warum das Ganze hier läuft – einen einzigen Grund!« Der Monolog des Governors wird von nervösem Gesichtszucken begleitet, Nachwirkungen von dem herben elektrischen Taser-Schock. Getrocknetes Blut klebt an seinem Gesicht, an seinen Kleidern und in seinen Haaren. »Es funktioniert, weil ich es zum Funktionieren bringe! Seht ihr, was da draußen los ist? Das steht auf der Speisekarte, wenn es euch hier nicht gefällt! Ihr wollt irgendein utopisches Paradies, eine Art Oase, warm und fluffig, einer für alle und alle für einen? Die Leute hier sind keine Musketiere! Nein, wir befinden uns mitten im Krieg!«
Er hält inne, um seinen Worten Nachdruck zu geben. Die Stille liegt über dem Raum.
»Fragt doch irgendeinen Motherfucker da draußen auf den Tribünen, ob sie eine Demokratie wollen! Ob sie es warm und fluffig möchten! Oder ob es ihnen lieber ist, jemanden zu haben, der alles in die Hand nimmt … Und sie davor beschützt, dem nächsten dahergelaufenen Beißer als Mittagessen zu dienen!« Seine Augen funkeln. »Ihr scheint wohl vergessen zu haben, wie es war, als Gavin und seine Wachen noch das Sagen hatten! Erst jetzt gehört die Stadt wieder uns! Wir haben …«
Ein Klopfen an der Tür unterbricht seinen Redeschwall. Der Governor dreht sich genervt um. »WAS?«
Der Türknauf dreht sich, und ein zehn Zentimeter breiter Spalt öffnet sich. Ein schüchtern dreinblickendes Gesicht erscheint, das dem Bauernjungen aus Macon gehört. Seine AK-47 hängt an einem Gurt an seiner Seite. »Boss, die Situation wird langsam brenzlig da draußen.«
»Was?«
»Die beiden Kämpfer sind gleich am Anfang draufgegangen. Jetzt haben wir nur noch Leichen und Beißer an Ketten. Aber die Leute bleiben alle da, besaufen sich mit Whiskey und weiß Gott was und schmeißen alles, was nicht niet- und nagelfest ist, auf die Zombies.«
Der Governor fährt mit den Fingern über seinen Fu-Manchu-Schnurrbart. »Sag ihnen, dass es bald eine wichtige Durchsage geben wird.«
»Aber was ist mit …«
»SAG EINFACH BESCHEID!«
Der Bauernjunge nickt schüchtern und schließt dann die Tür wieder hinter sich.
Der Governor dreht sich um und wirft einen Blick auf den großen schwarzen Mann, dessen Jeansklamotten unter dem ganzen Blut und Fetzen von Gewebe und Organen kaum noch auszumachen sind. »Bruce, hol Stevens und sein kleines Schoßhündchen. Ganz gleich, was sie gerade tun. Ich will, dass sie herkommen, und zwar pronto!«
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