»Immer mit der Ruhe, Lilly«, warnt Martinez sie, der weiter vorne an der Wand zur Fahrerkabine hockt. Er hält ein Walkie-Talkie in seiner behandschuhten Hand. Das Gesicht ist vor Nervosität ganz verzerrt. Er kommt sich vor wie ein Ketzer, der gegen die Kirche aufbegehrt. Martinez dreht sich um, drückt auf den Knopf und sagt mit leiser Stimme: »Folgt einfach dem Jeep. Fahrt ohne Licht und sagt Bescheid, sobald ihr Zombies seht.«
Der Governor kommt langsam zu Bewusstsein, blinzelt, schaut sich um. Er zerrt an dem Seil, checkt, wie belastbar seine Fesseln sind.
»Jetzt hör mal gut zu, Blake«, erhebt Lilly das Wort und blickt hinunter zu dem Mann, der auf dem Wellblechboden liegt. »›Governor‹ … ›Präsident‹ … ›König‹ und all diese Scheiße … Wie auch immer du dich nennst. Glaubst du etwa, dass du ein gutmütiger Diktator bist?«
Die Augen des Governors schwirren ruhelos durch den Lieferwagen, wie ein gefangenes Tier, das darauf wartet, abgeschlachtet zu werden.
»Meine Freunde hätten nicht sterben müssen«, fährt Lilly fort und baut sich über dem Mann auf. Ihr steigen Tränen in die Augen, und sie hasst sich dafür. »Du hättest hier etwas Großes schaffen können … Einen Ort, an dem die Menschen friedlich und in Eintracht leben können … Und was hast du gemacht? Eine kranke Freak-Show hast du ins Leben gerufen!«
Weiter vorne drückt Martinez erneut auf den Sprechknopf: »Stevie, siehst du schon etwas?«
Man hört ein Rauschen und Knistern, ehe die Stimme des jungen Mannes ertönt: »Negativ … Noch nichts … Halt!« Wieder Rauschen, dann Rascheln. Dann nicht ins Mikrofon gesprochen: »Was zum Teufel ist denn das?«
Martinez drückt auf den Knopf. »Stevie, bitte wiederholen. Wir haben hier nichts verstanden.«
Rauschen … Gefolgt von Knistern.
»Stevie? Hörst du mich? Ich will nicht zu weit von der Stadt weg!«
Ab und zu kann man Stevie zwischen dem ganzen Rauschen und Knistern hören: »Stopp, Taggert! … Stopp! … Was zum Teufel! WAS ZUM TEUFEL …!«
Lilly wischt sich die Augen trocken und starrt dann erneut den Governor an. »Sex gegen Essen? Ehrlich? Wirklich? Ist das deine wunderbare neue Gesellschaftsordnung …«
»Lilly!«, ruft Martinez von vorne. »Hör auf damit! Wir haben ein Problem!« Er drückt erneut auf den Knopf. »Broyles, halt sofort an!«
Jetzt ist der Governor wieder bei vollem Bewusstsein. Er erwidert Lillys Blick, starrt sie mit einer stillen Wut an, die Löcher in ihre Seele brennen müsste, aber Lilly stört es kein bisschen. Sie merkt es nicht einmal.
»All das Kämpfen, die Suizide und die Furcht, die jeden dumpf vor sich hin vegetieren lässt …?« Sie würde ihn am liebsten anspucken. »Das ist deine Idee einer perfekten GESELLSCHAFT …?«
»Lilly! Verdammt noch mal!« Martinez dreht sich zu ihr um, schaut sie an. »Würdest du bitte …«
Der Truck hält plötzlich ruckartig an, so dass Martinez gegen die Wand zur Fahrerkabine geworfen wird und Lilly über den Governor hinweg gegen einen Stapel Munition fliegt. Die Kartons kommen ins Wanken und fallen zu Boden. Das Handsprechfunkgerät gleitet Martinez aus der Hand und endet neben einer auf dem Boden liegenden Tasche. Der Governor rollt sich von einer Seite zur anderen, bis das Panzerband über seinem Mund sich löst.
Dann ertönt Broyles Stimme inmitten von Rauschen: »Habe Sichtbestätigung eines Beißers!«
Martinez kriecht zum Handsprechfunkgerät, schnappt es sich und drückt auf den Knopf. »Was zum Teufel war denn das, Broyles? Warum hast du …«
»Und noch einer!«, krächzt die Stimme aus dem winzigen Lautsprecher. »Da kommen ein paar aus … Oh, fuck … Oh, fuck … OH, FUCK!«
Martinez drückt erneut auf den Knopf. »Broyles, was zum Teufel geht da vor?«
»Da sind mehr, als wir …«
Dann Rauschen, ehe Stevies Stimme erneut ertönt: »Verdammte Scheiße, da kommt ein ganzer Haufen aus dem …« Wieder Rauschen. »Die kommen aus dem Wald. Man … Die kommen und kommen und kommen …«
Martinez brüllt ins Handsprechfunkgerät: »Stevie! Sprich mit mir! Sollen wir sie einfach rausschmeißen und abhauen?«
Rauschen als Antwort.
Martinez brüllt: »Stevie! Hörst du mich noch? Sollen wir umkehren?«
Plötzlich meldet sich Boyles wieder: »Viel zu viele, Boss! Ich habe noch nie so viele …«
Wieder Rauschen gefolgt von einem Schuss und brechendem Glas, sie können es sogar durch das Blech des Lieferwagens hören. Lilly rafft sich auf. Sie weiß genau, was draußen vor geht, holt ihre Ruger hervor, entsichert sie und wirft einen Blick über die Schulter. »Martinez, hol deine Männer da raus!«
Martinez drückt wieder auf den Knopf. »Stevie! Kannst du mich hören? Zieht Leine, zurück mit euch! Dreht um! Wir finden schon etwas anderes! Kannst du mich hören? STEVIE!«
Stevies qualvoller Schrei ertönt aus dem Handsprechfunkgerät, ehe eine weitere Salve Schüsse aus einem Maschinengewehr das Rauschen ablöst … gefolgt von einem fürchterlichen Reißen von Metall … und dann einem gigantischem Knall.
Broyles meldet sich wieder: »Scheiße! Die haben den Wagen einfach umgeworfen! Es sind zu viele, es sind einfach viel zu viele! Wir sind im Arsch! WIR SIND VÖLLIG IM ARSCH!«
Der Wagen vibriert, und der Motor heult auf. Kurz darauf schießen sie rückwärts, und sie werden allesamt gegen die Wand zur Fahrerkabine geworfen. Lilly stößt mit der Schulter gegen einen Waffenständer und stößt dabei ein halbes Dutzend Maschinengewehre um. Gabe und Bruce prallen mit Wucht gegeneinander, und ohne dass jemand anderes etwas davon mitkriegt, hakt Gabe die Finger in Bruces Fesseln und zieht und zerrt daran. Das Panzerband über Bruces Mund ist abgegangen, und er brüllt: »IHR MOTHERFUCKER! JETZT WERDEN WIR ALLE STERBEN!«
Der Lieferwagen holpert über etwas drüber. Schon wieder und immer wieder, und sie können feuchte, gedämpfte Schläge vernehmen, die die Karosserie erschüttern. Lilly hält sich mit der freien Hand fest und blickt sich um.
Martinez krabbelt auf allen vieren zum Handsprechfunkgerät, während der schwarze Mann weiter flucht, bis der Schwede den Lauf seines .45er auf seinen kahlen Schädel richtet. »HALT VERDAMMT NOCH MAL ENDLICH DEINE SCHNAUZE!«
»IHR MOTHERFUCKER KÖNNT DOCH NICHT MAL …«
Das Heck des Trucks rammt gegen irgendetwas und bleibt stecken. Die Hinterreifen drehen auf etwas Rutschigem, Schleimigem durch, und alle Insassen werden von dem Aufprall in eine Ecke geworfen. Waffen fliegen durch die Luft, und der Governor rollt gegen einen Stapel Kartons, die durch den Stoß umfallen und auf ihm landen. Er stößt einen wütenden Schrei aus, das Panzerband hängt ihm vom Kinn, und verstummt dann.
Jeder ist still, als der Lieferwagen zur Ruhe kommt. Sehr still.
Plötzlich fängt der Wagen an zu ruckeln. Von einer Seite zur anderen Seite. Boyles Stimme ertönt aus dem Handsprechfunkgerät und stammelt irgendetwas von »zu viele« und »abhauen!« , als auf einmal die Schüsse von Broyles AK-47 von der Fahrerkabine die Stille unterbrechen. Kurz darauf hört man, wie Glas zerbricht und ein Mensch aufschreit.
Dann herrscht erneut Stille. Grabesstille. Sie wird abgelöst von dem tiefen, monoton brummenden und schleimigen Stöhnen Hunderter toter Stimmen, die durch die Wände der fensterlosen Ladefläche dringen. Plötzlich fängt das Ruckeln wieder an, und der Lieferwagen schaukelt erneut wild von einer Seite auf die andere.
Martinez schnappt sich ein Maschinengewehr, entsichert die Waffe, springt zur Hintertür, legt eine Hand auf den Griff, als er auf einmal eine tiefe, von Whiskey gezeichnete Stimme hinter sich vernimmt.
»Das würde ich an deiner Stelle schön sein lassen.«
Lilly dreht sich um und sieht den Governor, das Panzerband noch immer von seinem Kinn hängend, wie er sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnt. Seine dunklen Augen funkeln. Sie hält ihm die Ruger an die Stirn. »Du hast hier nichts mehr zu sagen«, fährt sie ihn an.
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