»Hier, trink«, fordert sie ihn auf und flößt ihm etwas Wasser in den Mund. Er hustet, schluckt es aber. Seine Hände zucken, und sein ganzer Körper schüttelt sich. Er versucht, Lilly anzuschauen, aber seine Augen spielen nicht mit. Sie legt ihm eine Hand auf seine fiebrige Stirn. »Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, Bob. Aber das wird schon wieder. Ich bin ja da. Los, komm.«
Sie greift ihm unter die Arme, hebt ihn mit Mühe auf das Bett und legt ihm ein Kissen unter den Kopf. Dann deckt sie ihn zu und redet sanft auf ihn ein: »Ich weiß, dass der Verlust von Megan dir zu schaffen macht, aber lass dich nicht gehen, Bob. Das Leben geht weiter.«
Er runzelt die Stirn, und der Schmerz steht ihm im Gesicht geschrieben. Er schaut zur Decke auf, erweckt den Anschein, als ob er lebendig begraben wurde und zu atmen versucht. Endlich lallt er: »Ich wollte doch nicht … Nie … Das war doch nicht meine Idee, dass …«
»Es ist okay, Bob. Du musst dich nicht erklären.« Sie streichelt ihm die Stirn und sagt dann mit ruhiger Stimme: »Du hast das gut gemacht. Alles wird gut. Hier wird sich einiges ändern, und zwar zum Guten.« Sie streichelt seine Wange, spürt seine kalte Haut und beginnt, leise Joni Mitchells »The Circle Game« zu singen. Wie in den alten Zeiten.
Bob lässt den Kopf auf das von Schweiß durchtränkte Kissen sinken. Sein Atmen wird ruhiger. Er schließt die Augen. Wie in alten Zeiten … Er fängt zu schnarchen an, aber Lilly singt noch etwas weiter.
»Wir … entfernen ihn«, haucht Lilly dem schlafenden Mann zu.
Sie weiß, dass er nichts mehr hört, aber sie redet mit sich selbst, mit einem tief begrabenen Teil ihrer Psyche.
»Es ist zu spät, um noch etwas zu ändern … Wir entfernen ihn …«
Lillys Stimme verstummt, sie sucht und findet eine Decke und verbringt den Rest der Nacht sitzend neben Bob, während sie auf den Anfang des neuen Tags wartet, der ihr Schicksal bestimmen wird.
Am nächsten Morgen steht der Governor früh auf, um die letzten Vorbereitungen für die große Show zu treffen. Er ist bereits vor Morgengrauen auf den Beinen, zieht sich rasch an, macht sich Kaffee und verfüttert die letzten menschlichen Eingeweide, die er zuhause hat, an Penny. Um sieben ist er bereits auf dem Weg zu Gabes Wohnung. Die Salzstreuer sind ebenfalls schon bei der Arbeit, obwohl das Wetter angesichts der Geschehnisse der vergangenen Woche überraschend mild ist und die Temperaturen weit über dem Gefrierpunkt liegen. Der Himmel macht auch keinen bedrohlichen Eindruck mehr, sondern ist nur noch mit einer blassgrauen Decke von zementfarbenen Wolken bedeckt. Es weht eine schwache Brise, und der anbrechende Tag scheint dem Governor wie perfekt für den kommenden Abend und die neuen und verbesserten Gladiatorenspiele.
Gabe und Bruce überwachen den Transport der gefangenen Zombies in den Katakomben unter dem Stadion. Es dauert einige Stunden, die Kreaturen aus den Untergeschossen in den Sammelraum zu lotsen, da die Zombies nicht nur widerspenstig sind, sondern der Governor auch will, dass niemand etwas davon mitkriegt. Allein bei dem Gedanken der Enthüllung des Rings des Todes läuft dem Governor das Wasser im Mund zusammen, und er will, dass die Zuschauer am Abend das Gleiche empfinden. Er verbringt den Großteil des Nachmittags in der Arena, überprüft immer wieder Vorhänge, die Beschallungsanlage, die Musikeinsätze, Lampen und Scheinwerfer, Tore, Schlösser, die Sicherheitsmaßnahmen und zu guter Letzt die Kämpfer selbst.
Die beiden übrig gebliebenen Wachen, Zorn und Manning, siechen noch immer in ihrer Zelle dahin und haben so gut wie alle Muskeln und sämtliches Körperfett verloren. Sie ernähren sich schon seit Monaten von nichts weiter als Überbleibseln alter Cracker und Wasser, sind ununterbrochen an die Wand gekettet und besitzen kaum noch einen klaren Gedanken. Ihre einzige Rettung ist ihr Training beim Militär – und ihre Wut, die während ihrer wochenlangen, qualvollen Gefangenschaft an ihnen genagt, immer mehr von ihnen Besitz ergriffen und sie in wild dreinblickende Monstern verwandelt hat, die nur darauf warten, Rache zu üben.
Mit anderen Worten: Wenn sie ihre Wärter nicht töten können, dann stürzen sie sich dankbar auf alles andere, was sich ihnen in den Weg stellt, einschließlich einander.
Die Wachen sind das letzte Schlüsselstück, und so wartet der Governor bis zum letzten Augenblick, um sie aus der Zelle zu geleiten. Gabe und Bruce schnappen sich drei der kräftigsten Arbeiter und weisen sie an, in die Zelle zu gehen, um den Wachen ein Beruhigungsmittel zu spritzen, damit man sie leichter transportieren kann. Sie haben es so oder so nicht weit. Mit Lederriemen um den Hals, über die Münder, um die Handgelenke und Fersen gebunden, werden sie die metallenen Treppen hinauf in einen Warteraum gezerrt.
Vor langer Zeit wurden diese Korridore einmal von Racing-Fans benutzt, die T-Shirts, Hamburger, Bier und Zuckerwatte kauften. Jetzt aber liegen sie in immerwährender Finsternis, sind mit Brettern verschlagen, mit Schlössern versehen und als behelfsmäßige Lager für alles, von Kraftstoffbehältern bis zu Kartons, mit gestohlenen Wertsachen der Toten benutzt.
Um halb sieben am frühen Abend ist es so weit. Der Governor befiehlt Gabe und Bruce, sich einander gegenüber in der Arena aufzustellen und etwaige widerspenstige Wettkämpfer oder Zombies in Schach zu halten, die es sich in den Kopf gesetzt haben zu fliehen. Zufrieden mit den Vorbereitungen, macht der Governor sich auf den Weg nach Hause, um sich für die Show anzuziehen: schwarze Lederweste, schwarze Lederhose und schwarze, lederne Motorradstiefel. Zudem bindet er sich eine Feder in den Pferdeschwanz. Er fühlt sich wie ein Rockstar. Das i-Tüpfelchen bildet sein langer, schwarzer Ledermantel.
Kurz nach sieben machen sich die Einwohner Woodburys auf den Weg ins Stadion. Während der vorigen Woche hat der Governor sogar Poster an Laternen und in Ladenfenster anbringen lassen, und ein jeder weiß, dass die Show erst um halb acht beginnt. Aber alle möchten einen guten Platz haben, es sich mit Decken und Kissen gemütlich machen und etwas zu trinken holen, ehe das Spektakel anfängt
Das milde Wetter trägt dazu bei, dass alle mit freudiger Erregung auf die Geschehnisse des Abends warten.
Zwei Minuten vor halb acht wird es plötzlich so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Die Zuschauer sitzen und stehen auf den Tribünen, die Gesichter gegen den Zaun gepresst. Die jungen Männer sind ganz unten, während Frauen, Paare und ältere Bewohner es sich weiter oben mit Decken um die Beine eingerichtet haben, um der Kälte zu trotzen. Jedem Gesicht kann man den Hunger eines Junkies im Entzug ablesen – ausgemergelt, abgemagert, nervös. Sie wissen, dass gleich etwas Außergewöhnliches vor ihren Augen passieren wird. Sie riechen Blut.
Und der Governor wird sie nicht enttäuschen.
Punkt halb acht, zumindest laut der automatischen Fossil-Armbanduhr des Governors, ertönt Musik aus dem Beschallungssystem des Stadions. Sie ist neben dem kontinuierlichen Rauschen des Windes zuerst gar nicht zu hören, lediglich ein Hauch, ein unterirdisches Beben. Die Melodie kennt so gut wie jeder, wenn auch niemand weiß, was es ist: Also sprach Zarathustra von Richard Strauss. Die meisten kennen das Stück von dem Film 2001: Odyssee im Weltraum . Die anschwellenden Töne der Blechbläser erklingen einer nach dem anderen und bauen sich zu einer dramatischen Fanfare auf.
Im Licht der Flutlichter kann man den leichten Schneefall sehen, der jetzt auf sie niederfällt. Die Mitte der schlammigen Arena ist in beißend grelles Licht getaucht. Die Menge stößt begeisterte Rufe aus, als der Governor in den Lichtkegel schreitet.
Er hebt eine Hand, eine majestätische, melodramatische Geste. Die Musik erreicht jetzt ihren Höhepunkt, und der Wind spielt mit den Rockschößen seines Ledermantels. Er taucht fünfzehn Zentimeter tief in den Matsch ein. Die gesamte Arena ist ein einziger Morast, und der Governor glaubt, dass der Schlamm die Show nur noch dramatischer machen wird.
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