Noch bevor die Regenstürme vorbei sind, sie ziehen weiter gen Osten Richtung Küste, übertrifft die noch verstreute Zahl der Toten sogar die Menge der Lebenden, die zu Zeiten vor der Plage in der Stadt Harrington lebten.
Das Nachspiel dieses Jahrhundertsturms endet in beinahe tausend Zombies, die sich langsam zusammenfinden und die größte Herde seit Beginn der Plage bilden. In der verregneten Dunkelheit sammeln sie sich mühsam und unbeholfen, bis sie sich in einem riesigen Pulk zwischen dem Crest Highway und der Roland Road gefunden haben. Die Herde ist so dicht, dass ihre verwesenden Köpfe aus der Ferne wie eine dunkle, brackige Flut aussehen, die unaufhaltsam über das Land strömt.
Aus keinem ersichtlichen Grund, außer vielleicht der unerklärlichen Verhaltensweise der Toten, rollt die Herde vielleicht aus Instinkt, vielleicht wegen des Geruchs, der Pheromone oder einfach nur aus Zufall nach Nordwesten direkt auf die am dichtesten bevölkerte Stadt der Gegend zu: Woodbury. Sie haben noch fünfzehn Kilometer vor sich.
Der Sturm hinterlässt Bauernhöfe und Felder im Südosten Georgias in riesigen Seen schwarzen, dreckigen Wassers. Die flachen Teiche gefrieren, die höher gelegenen Landstriche bilden ein einziges Schlammfeld.
Die immer schwächer werdende Regenfront zieht über das Land, verwandelt die Wälder und Hügel um Woodbury in ein Wunderland glitzernder Äste, Stromleitungen, die unter dem Gewicht der unzähligen Eiszapfen nachzugeben drohen, und kristalliner Pfade. Das alles wäre vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt ein wunderbarer Anblick, aber jetzt, inmitten dieser alles verwüstenden Plage und verzweifelter Menschen, ist es alles andere als das.
Am nächsten Tag mühen sich die Bewohner von Woodbury ab, die Stadt wieder auf Vordermann zu bringen. Der Governor weist seine Männer an, eine nahe gelegene Meierei nach Salzblöcken zu durchsuchen. Sie werden fündig und transportieren sie auf Pritschenwagen zurück, um sie dann mit Motorsägen in leichter zu hantierende Brocken zu schneiden, klein zu machen und schließlich auf die Straßen und Bürgersteige zu streuen. Sandsäcke werden südlich der Stadt aufgestapelt, um das Wasser abzuhalten. Den ganzen düsteren grauen Tag lang schöpfen, hacken, streuen und schaufeln die Bewohner die Stadt wieder frei.
»Die Show muss weitergehen, Bob«, meint der Governor am späten Nachmittag im Stadion. Die grellen Flutlichter scheinen durch den Nebel auf ihn herab, und das Nageln der Generatoren dröhnt in der Ferne. Die Luft riecht nach Gas, Alkalien und brennendem Müll.
Die Oberfläche der Rennbahn wiegt sich im Wind, der Schlamm ist so dick wie Haferbrei. Der Regen hat auch das Stadion und die Rennbahn nicht verschont, und das Wasser steht teilweise einen halben Meter hoch. Die mit Eis überzogenen Tribünen funkeln vor sich hin und werden von ein paar Arbeitern mit Gummiwischern und Schaufeln freigekratzt.
»Hä?« Bob Stookey hockt fünf Meter hinter dem Governor auf einer der Tribünen.
Gedankenverloren entkommt ihm ein Rülpser, der Kopf rollt im Vollrausch auf seinen Schultern hin und her. Bob sieht wie ein verlorener, kleiner Junge aus. Neben ihm liegt eine ausgetrunkene Flasche Jim Beam auf der mit Eis überzogenen, stählernen Sitzbank. Eine weitere, noch halb voll, hält er in seiner schmierigen, klammen Hand. Er hat die letzten fünf Tage durchgesoffen, seitdem er Megan Lafferty aus dieser Welt befördert hat.
Ein unverbesserlicher Säufer kann den Rausch besser aufrechterhalten als ein x-beliebiger Gelegenheitstrinker, denn die erreichen den Höhepunkt ihrer Trunkenheit, indem sie dieses Prickeln verspüren und sich in Gesellschaft wohlfühlen, kurz bevor ihnen der Vollrausch jeglichen Verstand raubt. Bob jedoch kann das Delirium erst nach einer Flasche Whiskey erreichen und für Tage aufrechterhalten.
Aber jetzt hat Bob Stookey das Ende seines Saufgelages erreicht. Nachdem er täglich vier Flaschen geleert hat, fängt er an, ständig einzunicken. Die Realität entgleitet ihm immer mehr, er beginnt zu halluzinieren, beinahe ohnmächtig zu werden.
»Ich habe gesagt, dass die Show weitergehen muss«, wiederholt der Governor etwas lauter und klettert über den ersten Maschendrahtzaun, der ihn von Bob trennt. »Die Leute kriegen langsam Hüttenkoller, Bob. Sie brauchen wieder etwas Ablenkung.«
»Wohl wahr«, grunzt Bob lallend. Er kann kaum den Kopf gerade halten und lugt unstet zum Governor hinab, der jetzt direkt vor der Tribüne steht und Bob unheilvoll durch den Maschendrahtzaun anblickt.
In Bobs fiebrigen Augen sieht der Governor unter dem kalten Flutlicht wie ein Dämon aus. Über seinem Kopf mit den nach hinten gezogenen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haaren schwebt ein silberner Heiligenschein. Sein Atem ist als silbriger Rauch sichtbar, und sein schwarzer Fu-Manchu-Schnauzer wippt auf und ab, als er weiter auf Bob einredet: »So ein kleiner Wintersturm kann uns nichts anhaben, Bob. Ich habe da eine Idee … Das wird die Leute umhauen. Warte es nur ab. So etwas hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«
»Hört sich … gut an«, stammelt Bob. Sein Kopf fällt nach vorne, und ein dunkler Schatten legt sich über seine Augen.
»Morgen Abend, Bob.« In Bobs schummrigem Blick scheint das Gesicht des Governors wie ein Geist in der Luft zu schweben. »Das wird allen eine Lehre sein, Bob. Von jetzt ab wird hier ein anderer Wind wehen. Recht und Ordnung, Bob. Da kann man so viel lernen, dass einem der Schädel platzen mag. Aber gleichzeitig liefern wir auch eine Supershow, ist doch klar. Das wird ihnen die Zehennägel aufrollen. Das werden wir genau hier erreichen, in diesem Schlamm und der ganzen Scheiße. Bob? Hörst du mir überhaupt zu? Bob? Alles klar bei dir? Hey, alter Mann, immer schön bei mir bleiben!«
Bob wird schwarz vor Augen. Er verliert das Bewusstsein, fällt vom Sitz, und das Letzte, was er sieht, ist das Gesicht des Governors, das von den rostigen, geometrischen Maschen des Zauns zwischen ihnen in Einzelteile zerschnitten wird.
»Wo zum Teufel steckt eigentlich dieser Martinez?« Der Governor wirft einen Blick über die Schulter. »Habe schon seit Stunden weder Haut noch Haare von dem Arschloch gesehen.«
»Jetzt hört mir mal zu«, fordert Martinez die Männer auf und schaut jedem der Mitverschwörer der Reihe nach tief in die Augen. Die fünf sitzen in einem Halbkreis in einer Ecke des düsteren, alten Eisenbahnlagers um ihn herum. Überall hängen alte Spinnweben, und es ist so dunkel wie in einem Grab. Martinez zündet sich einen Zigarillo an, und sein markantes, intelligentes Gesicht wird von Rauch umhüllt. »Man stülpt einen Eimer nicht langsam und vorsichtig über eine Scheißkobra – man tut es so schnell und gezielt wie nur möglich.«
»Wann?«, will der Jüngste namens Stevie von ihm wissen. Er hockt neben Martinez, ist groß und schlank, halb schwarz, halb weiß, trägt eine glänzende, schwarze Jacke, hat etwas Flaum über der Lippe und blinzelt nervös mit seinen langen Wimpern in die Runde umher. Stevies scheinbare Arglosigkeit wird nur von seiner Lust getrübt, Zombies zu ermorden.
»Bald.« Martinez zieht an seinem Stumpen. »Ich lasse es euch heute Abend wissen.«
»Wo?«, fragt ein weiterer Mitverschwörer, ein älterer Mann in einer Wolljacke und einem Schal, der auf den Namen Schwede hört. Sein wilder Schopf blonder Haare, das lederne Gesicht und die breite Brust, die zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Patronengurten behängt ist, verleihen ihm den Anschein, als ob er gerade aus der französischen Résistance des Zweiten Weltkrieges kommt.
Martinez wirft ihm einen Blick zu. »Das werdet ihr schon früh genug erfahren.«
Der Schwede seufzt genervt. »Wir spielen hier mit dem Feuer, Martinez. Zumindest könntest du uns ein paar Hinweise geben, auf was genau wir uns da einlassen.«
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