Lilly verschlägt es den Atem, als Megans geschwollene purpurne Lider plötzlich aufgehen und milchig-weiße Augen sie anstarren.
Lilly verharrt, während der schwarze Mann mit dem rasierten Schädel auf sie zueilt. In den Händen hält er seinen .45er, den er schussbereit auf den Schädel des Kadavers richtet. Aber ehe er eine Chance hat, abzudrücken, ertönt die Stimme des Governors: »Nicht schießen, Bruce!«
Bruce wirft einen Blick über die Schulter, als der Governor auf ihn zukommt und meint: »Sie soll es tun.«
Lilly schaut zu dem Mann in dem langen Mantel, blinzelt, sagt aber kein Wort. Ihr Herz fühlt sich an, als ob es aus Asche wäre, das Blut in ihren Venen scheint zu gefrieren. Aus der Ferne dringt gewaltiges Donnern an ihre Ohren.
Der Governor geht auf sie zu. »Los, Bruce, mach schon. Gib ihr die Waffe.«
Eine schier unendlich lange Zeit scheint zu vergehen, aber irgendwie hält Lilly auf einmal das Schießeisen in der Hand. Neben ihr windet und krümmt sich das Ding, das einmal Megan Lafferty gewesen ist. Ihr Nervensystem kommt in Fahrt, ihr Mund öffnet sich, um schimmlige, graue Zähne zu entblößen. Lilly kann vor lauter Tränen kaum etwas sehen.
»Befördere deine Freundin ins Jenseits, Lilly«, drängt der Governor sanft.
Lilly hebt die Waffe. Megan reckt den Kopf hoch, will Lilly an die Kehle, wie ein Embryo, der aus dem Mutterkuchen schlüpft. Ihre Zähne klappern vor Hunger, schnappen nach ihr. Lilly hält die Mündung gegen ihre Stirn.
»Tu es, Lilly. Erlöse sie.«
Lilly schließt die Augen. Der Hahn brennt ihr am Finger wie ein Eiszapfen. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie, wie die Kreatur plötzlich zu ihr hochschnellt, den Mund aufgerissen und bereit, die Zähne in Lillys Halsschlagader zu versenken.
Es passiert so schnell, dass Lilly beinahe nichts von allem mitkriegt.
Ein Schuss ertönt.
Lilly fällt auf den Hintern. Die Waffe gleitet ihr aus der Hand, Megans Schädeldecke explodiert in einer dunkelroten Wolke, und der Bürgersteig wird mit Gehirnfetzen übersät. Der reanimierte Leichnam sackt zusammen und liegt noch immer halb vom Laken verdeckt auf dem Boden. Die haiartigen Augen starren gen Himmel.
Einen Augenblick lang liegt Lilly auf dem Rücken, die Wolken über ihr. Sie ist völlig verwirrt. Wer hat den tödlichen Schuss abgegeben? Hat Lilly nicht abgedrückt? Wenn nicht sie, wer dann? Sie reibt sich die Augen, versucht, den Governor anzublicken, der über ihr steht, aber er starrt auf etwas oder jemanden zu seiner Rechten, die Miene wie versteinert.
Dann steht Bob Stookey über dem Leichnam Megan Laffertys, den .38er noch immer in der Hand. Sein Arm hängt jetzt beinahe leblos von der Schulter herab. Die Waffe raucht noch.
Die Trostlosigkeit ist in Bobs wettergegerbtes, mit tiefen Falten versehenes Gesicht geschrieben. Der Anblick droht Lilly das Herz zu brechen.
Während der nächsten Tage achtet niemand auf das sich ändernde Wetter.
Bob ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich ins Nirwana zu saufen, um etwas so Nebensächliches wie Kalt- oder Warmfronten zu bemerken, während Lilly den Großteil ihrer Zeit damit verbringt, eine vernünftige Beerdigung für Megan zu organisieren. Sie soll ein Grab neben Josh erhalten. Der Governor verbringt die meiste Zeit damit, die nächste Schlacht in der Arena vorzubereiten. Er hat große Pläne für die nächsten Shows, bei denen auch Zombies kämpfen sollen.
Gabe und Bruce verarbeiten die toten Wachen in einem Nebenlager hinter der Rennbahn und zerlegen sie in ihre Einzelteile. Der Governor braucht sie, um sie an seine immer größer werdende Sammlung von Zombies zu verfüttern, die in einem geheim gehaltenen Raum tief in den Katakomben des Stadions eingesperrt sind. Die beiden Handlanger des Governors kommen kaum noch hinterher und werben einige der jüngeren Männer von Martinez’ Bande an, um mit Kettensägen die menschlichen Überreste in dem dreckigen, dunklen Schlachthaus neben der Leichenhalle in Zombiefutter zu verwandeln.
Während jeder seiner Arbeit nachgeht, ziehen die für den Januar so typischen Regenfälle mit langsamer, beinahe tückischer Art über das Land hinweg.
Anfangs verbreiten die Ausläufer des Sturms noch wenig Besorgnis – hier und da ein Schauer, der die Gullis mal überlaufen lässt oder die Straße mit Eis bedeckt. Die Temperaturen halten sich um den Gefrierpunkt. Aber das Blitzen in der Ferne und der aufgewühlte schwarze Himmel am westlichen Horizont tun das Ihre, damit die Leute zu reden beginnen. Niemand weiß genau, warum gerade dieser Winter ein außergewöhnlicher für Georgia werden sollte. Eigentlich herrschen in dem Bundesstaat für gewöhnlich milde Winter. Ab und zu gibt es sintflutartige Regenfälle, sogar Schnee oder vielleicht in seltenen Fällen einen Eissturm, aber niemand ist auf das vorbereitet, was in den kommenden Tagen über den Obstgürtel der Vereinigten Staaten hereinbrechen wird. Ein Tief aus Kanada nähert sich mit gewaltigen Schritten.
Das Wetteramt in Peachtree City, das noch immer mithilfe von Generatoren und Kurzwellenradio läuft, hat vorige Woche Wetterberichte auf allen Frequenzen ausgegeben, die sie belegen konnten. Aber kaum ein Zuhörer zieht Nutzen aus Barry Goodens – so heißt der gestresste Wettermann – hastig vorgetragenen Warnungen, in denen er an den Blizzard von ’93 und die Überflutungen von 2009 erinnert.
Laut Gooden wird die bitterkalte Front, die in den nächsten Tagen den amerikanischen Süden heimsuchen wird, in den kommenden vierundzwanzig Stunden mit der feuchten, milden, warmen Luft über Central Georgia zusammentreffen. Das resultierende Chaos soll die »normalen« Winterstürme wie ein Kinderspiel aussehen lassen. Mit Winden bis zu hundertdreißig Stundenkilometern, gefährlichen Gewittern und einer Mischung aus Regen, Schnee und Eis verspricht der resultierende Sturm den von der Plage heimgesuchten Staat ins Chaos zu stürzen. Die hohen Temperaturunterschiede drohen, sämtliche Flüsse, Bäche und Abwasserkanäle in reißende Fluten zu verwandeln, und wie man erst vor zwei Jahren lernte, ist der Staat Georgia, insbesondere durch die Plage, völlig unvorbereitet für jegliche Art von Flutschäden.
Vor ein paar Jahren hat ein großes Unwetter den Chattahoochee River über die Ufer steigen lassen und das bevölkerungsreiche Gebiet von Roswell, Sandy Springs und Marietta unter Wasser gesetzt. Schlammlawinen haben Häuser aus den Fundamenten gerissen. Highways wurden unter- und überspült, und die Katastrophe endete mit Dutzenden Toten und Schäden in neunstelliger Höhe. Dieses Jahr aber – das Monster formiert sich derzeit über dem Mississippi und entwickelt sich schneller als für möglich gehalten – verspricht alles Dagewesene in den Schatten zu stellen.
Die ersten Anzeichen, dass etwas Außergewöhnliches auf sie zukommt, bemerken die Bewohner von Woodbury am Freitagnachmittag.
Bei Nachteinbruch gießt der Regen in einem Winkel von fünfundvierzig Grad auf sie herab, angetrieben von Böen mit bis zu achtzig Stundenkilometern. Er prasselt gegen Woodburys Mauer und lässt Hochspannungsleitungen über dem Marktplatz im Wind singen und wie Peitschen knallen. Blitzsalven erhellen die dunklen Gassen mit silbrigem Licht wie Fotonegative, und in der Hauptstraße laufen sämtliche Gullis über. Die meisten Einwohner überdauern das Unwetter bei sich zu Hause, so dass Bürgersteige und verbarrikadierte Läden wie leer gefegt sind …
… aber nicht alle, denn eine Gruppe von vier Bewohnern hat sich raus in den Regen gewagt, um sich heimlich in einem Büro unterhalb des Stadions zu treffen.
»Alice, bitte lassen Sie das Licht aus«, ertönt eine Stimme von hinter dem in Schatten getauchten Schreibtisch. Eine Drahtbrille schimmert in der Dunkelheit. Es ist der einzige Hinweis, dass es sich um Dr. Stevens handelt. Das gedämpfte Getöse des Sturms unterstreicht die Stille, die im Raum herrscht.
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