Mit diesem glücklosen Schiff hatte er nicht länger zu schaffen. Von Annapolis nach Rock Hall verkehrte ein Fährbetrieb, mit guten, schnellen Booten. Er beabsichtigte das erste Boot zu nehmen, welchem das Wetter abzulegen gestattete. Er sah den Stallknechten zu, stellte fest, daß sie ihr Handwerk verstanden, und belohnte sie großzügig. Dann bestellte er sich heißen Grog und begab sich zu Bett. Durch einen außerordentlichen Glücksfall konnte er eine eigene Kammer beziehen.
Er schlief, obwohl in fiebriger Unstetigkeit. Nach jedem Erwachen lauschte er dem Wind. Am Frühnachmittag des nächsten Tages, so vermutete er, würde der Wind sich abschwächen.
Er behielt recht. Um zwei Uhr des folgenden Tages rief man in den Schankräumen des Gasthauses aus, daß um drei Uhr eine Fähre nach Rock Hall auslaufen werde. Die Überfahrt beanspruchte ungefähr vier Stunden. Inzwischen hatte er bemerkt, daß sich Gerüchte über Geschehnisse an der Front ausbreiteten; sie waren falsch, aber man gab sie weiter. Ein Handelsmann versicherte im Saloon allen Zuhörern mit großer Ernsthaftigkeit, es habe eine gewaltige Seeschlacht stattgefunden. Und so weiter und so fort. Der Colonel, der George Washingtons Depesche in der Satteltasche trug, lauschte lediglich. Natürlich machte dies Kursieren von Kolportagen die Übermittlung der Wahrheit in Gestalt der Depesche um so dringlicher. Wohlan, er hatte nun guten Wind. Und er hatte Black Damn. Er nahm an, daß er nun endlich voranzukommen erwarten durfte.
Die Fähre lief um die genannte Stunde aus. Am Sandy Point, acht Meilen nördlich von Annapolis, unterquerte sie die Bay Bridge, eine sieben Meilen lange stählerne Straße, auf der – im Jahre 1974 – Autos mit einer Mindestgeschwindigkeit von vierzig Meilen je Stunde die Chesapeake-Bucht überquerten. Auf der Fähre des Jahres 1781 erzählte ein Passagier, daß sein Großvater sich noch erinnerte, daß die Indianer mit ihren Kanus stets von der Landzunge aus über die Bucht gerudert waren, denn dort war die schmälste Stelle. »In einem halben Tag kamen sie hinüber«, schloß der Passagier.
Die Fähre hatte fünfundzwanzig Meilen in nordöstlicher Richtung zurückzulegen. Ihre Ankunft war am Abend um sieben Uhr.
Dann war Tench Tilghman an Land. Und dann auch sein Pferd. Dann lag die Straße nach Philadelphia vor Tench Tilghman. Die letzte Etappe seines Kurierritts hatte begonnen. »Reitet, Colonel. Reitet !«
Er ritt. Es war ein Anpeilen und Vorwärtsschießen. Es war Schwärze und Feuer. Eine ausgedehnte Weite der Ruhe und eine unmittelbare Umgebung aus Geräuschen. Es war eine bewegungslose Welt, worin es nur eine Bewegung gab. Sein Pferd und er. Es war Freiheit von jedem anderen Antrieb außer dem eigenen. Keine plump zusammengenagelten Planken, die auf einen nassen Sandhügel liefen. Keine Stoffbahnen, die statt seinem Willen dem Wind gehorchten, ihn nach Westen zerrten, wogegen er gen Osten wollte. Keine der Unzulänglichkeiten des Fahrzeugverkehrs. Nur er selbst, eins mit seinem Pferd. Nur Bewegung. Reiten.
Die Straße vor ihm war ein weicher, lockerer Pfad. Sie lag verlassen – niemand reiste bei Nacht. Es war finster – die Häuser der Pflanzer waren durch Meilen Weite getrennt und standen vorwiegend nicht an der Straße, sondern an den Flüssen. Er kannte den Weg gut. Er war die Strecke schon mehrfach geritten. In der Tat handelte es sich bei diesem Pfad um einen der Hauptverkehrswege des kolonialen Amerika. Nun war er für ihn lediglich eine bestimmte Entfernung. Reite!
Einhundert Meilen. Er ritt.
Black Damn flog mit ihm durch die beiden ersten Teilstrecken des Wegs, von Rock Hall über Chestertown nach Down Crossroads. Endlich vermochte der Hengst seinem ständig schwellenden Grimm den rechten Ausdruck zu verleihen. Endlich. Er haßte die Straße. Mit seinen Hufen stampfte er die Erde auf, warf sie nach hinten. In zwei Stunden galoppierte er sechsunddreißig Meilen weit. Ein Drittel der Strecke.
Als er in den beleuchteten Hof der Station zu Downs Crossroads einbog, rief er nach einem Ersatzpferd, noch während er den Hengst zügelte, bis die Stallknechte gelaufen kamen. »Ein Pferd für den Kongreß! Für den Kongreß! Ein Pferd!« Dann stieg er ab und musterte Black Damn. Er sah, daß Black Damn müde war, erschöpft – aber noch immer zornig. Der Ritt hatte ihm nicht geschadet. Der Colonel bezahlte die doppelte Summe für die Pflege voraus und wandte sich dann seinem Ersatzpferd zu. Ein großer, vierschrötiger Brauner, der Erscheinung nach mit Sicherheit von steifer Gangart. Der Colonel saß auf und galoppierte davon.
Zehn Meilen bis Warwick. Der Braune schnaufte sie innerhalb von fünfzig Minuten hinab. In Warwick rief der Colonel erneut nach Ersatz – »Ein Pferd für den Kongreß!« Dort brachte man ihm eine Stute. Sie war sanft, aber langsam. Nach Odessa waren es zehn Meilen – und sie benötigte eine unerträgliche Stunde. Er hatte die Hälfte des Weges überwunden. Fünfzig Meilen lagen noch vor ihm.
Die weiteren Pferdewechsel bemerkte er kaum. Die Stationen glichen Kreisen lautstarken Lichts neben einem langen entrollten Strang aus stiller Dunkelheit. Reiten. Das war es – das war alles. Vorwärts, vorwärts, befahl sein Verstand, und seine Bewegungen folgten dem Befehl mit automatischer Willigkeit.
Bei einem der kurzen Aufenthalte lief ein Schankmädchen heraus auf den Hof und reichte ihm einen Krug Bier. »Mit den Grüßen meines Wirtes, Sir«, sagte es. »Wir sind Patrioten.« Dann bat es ihn, den Blick ernstlich in sein Gesicht gerichtet, zu bleiben und sich eine Rast zu gönnen, für welchen Zweckerein sauberes, frisches Bett erhalten solle. Er lächelte und gab zur Antwort, er werde nochmals vorbeikommen, stubste das Mädchen unters Kinn und schenkte ihm eine Münze. Während er all das tat, war er sich der Gegenwart des Mädchens kaum bewußt.
Ebensowenig war er sich seiner Pferde bewußt. Er holte nur das Beste aus ihnen heraus, paßte mit einer aus lebenslanger Erfahrung angeeigneten Feinfühligkeit seinen Körper an die Fähigkeiten und Launen des jeweiligen Tiers an. Noch weniger bewußt war er sich seines Fiebers. Es war nie von ihm gewichen, und nun stieg es gar. In seinem Kopf hallten andere Geräusche wider als jene, die ihn begleiteten, dem Klang der Hufe. Da waren Lichter, seitlich und ein wenig hinter ihm, als verfolgten sie ihn. Er schenkte ihnen keine Beachtung. Er wußte, daß es sie nicht gab. Er würde die Strecke schaffen. Das allein zählte. Zum Haus des Kongreßvorsitzenden.
Nördlich von Newcastle stimmte sein Weg mit dem Verlauf einer vierspurigen Schnellstraße des Jahres 1974 überein. Er galoppierte zwischen riesigen, brummenden Lastwagen und Neonscheußlichkeiten dahin, in einem Verkehr, der sich ständig verdichtete. An einer Stelle ritt er durch die Ambulanzfahrzeuge, Polizeiautos und Schaulustigen eines 1974 alltäglichen Auffahrunfalls mit fünf Toten, und seine Mission glühte in seinem Bewußtsein wie eine Kohle – »Die Revolution ist aus. Cornwallis hat kapituliert. Reitet! Reite! Reite!«
Und so gelangte er des Nachts um zwei Uhr und fünfundvierzig Minuten ans Ziel. Die Hufe klapperten über das Pflaster von Philadelphia, und er zügelte sein Pferd. An der Ecke zum Oberen Marktplatz. Vor dem Haus des Kongreßvorsitzenden der Vereinigten Staaten.
Schwungvoll stieg er ab, stieg mit der langsamen Leichtigkeit von mit Erschöpfung vermengtem Fieber ab. »Wenn im Verlauf der menschlichen Geschichte …‹ Wenn im Verlauf der menschlichen Geschichte ein Mann, ob krank oder gesund, einhundert Meilen weit geritten ist, hat er ein unveräußerliches Recht darauf, müde zu sein. Der Colonel dachte nicht daran, diese Adaption von Mr. Jeffersons Unabhängigkeitserklärung auf seine eigene Lage anzuwenden. Er dachte überhaupt nicht an seine unveräußerlichen Rechte. Mit traumhaften Bewegungen erklomm er die Stufen zur Tür des Kongreßvorsitzenden, hob den Türklopfer und klopfte einmal. Drinnen war es still. Er klopfte nochmals, und wieder blieb es ruhig. Er wiederholte das einmalige Pochen mehrfach, und schließlich klopfte er jeweils zwei- und dreimal. Nichts geschah. Er betrachtete die Tür.
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