Tilghman unterhielt sich mit Höflichkeit mit dem Kapitän. Der Mann hatte etwas Unverzeihliches getan, das nun verziehen werden mußte. Da er ihn nicht erschießen konnte, mochten sie genausogut die Annehmlichkeiten teilen. Schließlich gesellte der Colonel sich in der Kabine zum Kapitän und seinem Brandy.
Die Annehmlichkeiten jedoch blieben im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten. Das Wetter machte sie zu einem Nichts. Der Wind blies stärker. Er durchwehte die pechschwarze Luft mit bitterkaltem fliegenden Wasser. Auf dem Schoner war nichts warm, und nichts, das den Elementen ausgesetzt war, blieb trocken. Colonel Tilghmans Reaktion darauf stand außerhalb der Lehren einer jeden Philosophie. Sie kam einfach aus seinem Körper.
Er wußte, was das hieß, äußerste Hitze und Kälte und Nässe in nie sonderlich gut ernährtem Zustand zu ertragen. Er wußte es so gut wie jeder Mann, der die aufeinanderfolgenden Feldzüge des Krieges mitgemacht hatte. Seit Valley Forge jedoch hatte sich ein Widersacher in seinem zähen, sehnigen, außergewöhnlich leistungsfähigen Körper eingenistet. Es war etwas, das man allgemein unter der Bezeichnung ›Rückfallfieber‹ kannte. Es äußerte sich durch Frösteln und hohe Temperatur. Vor sich selbst verleugnete er es, und in Gegenwart anderer Leute spielte er den Fall als ›kurze Indisposition‹ herunter. Die Tatsache, daß irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung war, gedachte er weder sich noch anderen einzugestehen. Es zu verhehlen, war einfach. Andere Menschen erlitten ebenfalls Indispositionen – und seine traten unregelmäßig auf. Er bekam sie nur, wenn er sich Anstrengungen unterworfen hatte.
Er hegte nicht die Auffassung, das am 19. Oktober getan zu haben. Seine drei Stunden Schlaf in der vorherigen Nacht hatte er auf ziemlich trockenem Untergrund zugebracht. Während der Tage der Schlacht war er an Washingtons Seite gewesen, hatte mit Washington Schritt gehalten, und Washington hatte nichts anderes getan, als ein Kommandierender General in der Entscheidungsschlacht seines Krieges tun mußte. Für den Colonel hatte das geheißen, daß er Depeschen schreiben und überbringen, Inspektionen vornehmen und darüber berichten, seinen Vorgesetzten bei Tag und Nacht auf Erkundungen begleiten, an Konferenzen teilnehmen mußte, wo seine Französischkenntnisse zum Dolmetschen dienten, daß er in ständiger Bereitschaft zu sein hatte. Davon war gewiß nichts eine größere Anstrengung. Sieg – war das eine Strapaze? Niemals hatte einer von ihnen sich wohler gefühlt. Sie waren ungeduldige Männer, endlich von der Geduld erlöst.
Doch der Wind über der Chesapeake-Bucht scherte sich nicht um derartige Dinge. Der Widersacher im Colonel regte sich. Erfühlte seine Indisposition sich ankündigen. Unter Deck war eine Koje. Er konnte sich hinlegen. Er blieb auf Deck. Dieser elende Anfall würde vorübergehen. Er würde ihn mißachten …
Über der Bucht des Jahres 1974 herrschte ein ganz anderes Wetter. Dort wehte ein sachter Südwind mit fast sommerlicher Wärme. Der Himmel war klar und mit einem bemerkenswert schönen Mond geziert, einem so schönen Mond, daß er eine junge Frau des Jahres 1974 während der Kreuzfahrt durch die Tangier Shoal zu einer Bemerkung veranlaßte. »Irgendwie kann ich ihn mir einfach nicht als Raketenbasis vorstellen«, sagte sie zu ihrem Begleiter und seufzte.
Die beiden waren ein jungverheiratetes Paar und übten ihre gemeinsame Häuslichkeit romantischerweise zuerst auf einem Boot ein. Am Abend – verlockt vom herrlichen Wetter – waren sie hinausgefahren. Sie passierten den Schoner im Jahre 1781 in geringer Entfernung, jedoch in sicherer Wassertiefe, nicht bloß deshalb, weil die Sandbank sich 1974 an einer anderen Stelle befand, sondern auch, weil ihnen Karten und Fahrtrinnenzeichen zur Verfügung standen. Sie waren sehr glücklich. Die junge Frau entdeckte verblüfft, daß in ganz gewöhnlichen Dingen sich plötzlich Tiefen um Tiefen offenbarten. Es schien ihr, als lebte sie in einem Zustand der Erwartung einer lieblichen Erfüllung nach der anderen. Er stellte fest, daß er sich nie zuvor so behaglich gefühlt hatte, und war auf zärtliche Weise verständnisvoll zu dem lieben kleinen Geschöpf, dessen Dasein das seine so angenehm bereicherte.
Die junge Frau wandte den Blick vom Mond. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit. Sie war eben noch humorvoll kokett gewesen. Nun war sie plötzlich angespannt, erregte den Eindruck, als versuche sie etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gab. »Jack«, meinte sie, » spürst du etwas?«
»Was?« fragte er zurück.
»Als … als ob da etwas wäre«, antwortete sie. »Jemand …« Sie streckte einen schlanken Arm aus und deutete. »Dort?« Sie blickte genau dorthin, wo Tilghman stand, schaute in der Tat in seine Augen, die vom Fieber glänzten; ihre von der Liebe erweckte Sensitivität befähigte sie, wie sie es nannte, zu ›spüren‹, was außerhalb der Reichweite ihrer Sinne lag. »Etwas beinahe Geisterhaftes?« flüsterte sie fast unhörbar.
Ihr Ehemann lachte nachsichtig. Ein verrücktes kleines reizendes Ding, wie …?
Eine Stunde nach Mitternacht kam der Schoner frei. Um diese Zeit bestand weder für den Colonel noch für den Kapitän das Erfordernis, die Tatsache in Worte zu fassen, daß weder Rock Hall noch irgendein anderer ostwärtiger Punkt an der Küste sich erreichen ließ. Der Wind machte es deutlich genug. Sie mußten westwärts. Sie lagen auf Kurs nach Annapolis, und dadurch ergab sich eine zusätzliche Verzögerung, die schlichtweg unfaßbar war – mindestens zwölf Stunden.
Der Colonel mißachtete seine Indisposition auch weiterhin. Brannte sein Inneres lichterloh vom Fieber? Nun, er hatte schon auf so manchem Marsch unter glühender Sonne geschmort. Kroch das Frösteln über seine Haut? Nun gut, er hatte schon mehr als einmal auf verschneitem Boden geschlafen. Die Nachricht. Zum Kongreß.
Er wachte sorgsam über Black Damn, der ihn, sobald diese jämmerliche zweite Etappe seines Kurierauftrags durchgestanden war, verständig und tüchtig durch die dritte Etappe tragen sollte. Und schnell. Aus diesem Grund hatte er Black Damn mitgenommen. Andernfalls hätte er die längste Strecke des Weges nach Philadelphia auf Postpferden zurücklegen müssen, und Postpferde waren nicht viel wert. Die besten Postpferde waren nicht mehr als kräftig und ausdauernd. Sie flogen nicht – und Black Damn flog dahin. Sie besaßen keine leichte Gangart – Black Damns Bewegung war weich wie Samt. Colonel Tilghman wollte seine Abhängigkeit von den unterlegenen Tieren weitmöglichst verringern, indem er Black Damn bis zum Äußersten ausritt. Er besänftigte den Hengst, ließ ihm die übliche Pflege angedeihen und drückte ihm sein Verständnis aus. Gedulde dich. Ja, obwohl du aus reinem Feuer bist und deine Seele pure Ungeduld. Was bedeutet eine Wende von Wind und Wetter? Eine Wende im Verlauf der Menschheitsgeschichte war eingetreten.
Sie trafen am Abend des nächsten Tages in Annapolis ein. Der Wind hatte nicht nachgelassen. Auch nicht des Colonels Indisposition. Wenigstens ist sie langsam im Nachlassen begriffen, dachte der Colonel, als er am dunklen Ufer entlang zu einem Gasthaus strebte und plötzlich die scheußliche Heimsuchung erfuhr, sich der Gegenwart von etwas seltsam bewußt zu sein, das er nicht sehen konnte … Tatsächlich allerdings schritt er durch die Gruft unter der Kapelle der Naval Academy der Vereinigten Staaten, wo im Jahre 1974 die sterblichen Überreste seines Freundes Captain John Paul Jones in ewigen Ehren ruhten. Der Geist des Seehelden erfüllte die Ruhestätte; Colonel Tilghman, der Geist, vital in seiner Welt des Jahres 1781, ›spürte‹ ihn, wie die junge Ehefrau bei Tangier ihn selbst ›gespürt‹ hatte … Er suchte das Gasthaus auf, wo seine erste Sorge war, nachdem er sich in Wärme und Trockenheit sah, daß man zwei Stallknechte ausschickte, um Black Damn vom Schoner zu holen.
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