»Oh mein Gott .« Clary sprang auf und lief durch die Zelle.
»Das ist nicht wahr. Das ist einfach nicht wahr.«
»Clary, bitte reg dich nicht so auf …«
»Reg dich nicht so auf? Du erzählst mir gerade, dass mein richtiger Vater im Grunde der Herrscher alles Bösen ist, und ich soll mich nicht aufregen?«
»Er war nicht immer böse«, erwiderte Luke und klang dabei fast schon entschuldigend.
»Oh, da bin ich aber anderer Meinung. In meinen Augen ist er nie was anderes gewesen. Der ganze Blödsinn über die Reinhaltung der Rasse und die Bedeutung des unverdorbenen Blutes – das klingt doch wie einer dieser widerlichen Faschisten. Und ihr beide seid auch noch voll drauf reinge fallen.«
»Ich bin nicht derjenige, der noch vor ein paar Minuten etwas von ›miesen‹ Schattenwesen erzählt hat«, sagte Luke leise. »Oder davon, dass man ihnen nicht trauen kann.« »Das ist nicht dasselbe!« Clary konnte die Tränen in ihrer Stimme hören. »Ich hatte einen Bruder«, fuhr sie stockend fort. »Und Großeltern. Sind sie tot?«
Luke nickte und blickte hinunter auf seine großen Hände, die nun geöffnet auf seinen Knien lagen. »Ja.«
»Jonathan«, sagte sie leise. »Um wie viel wäre er älter als ich? Ein Jahr?«
Luke schwieg.
»Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht«, murmelte sie.
»Nicht«, sagte er unglücklich. »Quäl dich nicht. Du begreifst doch wohl, warum deine Mutter dies alles von dir ferngehalten hat, oder? Was hätte es für einen Nutzen gehabt, dich wissen zu lassen, was du schon vor deiner Geburt
verloren hattest?«
»Dieses Kästchen«, begann Clary, deren Gedanken sich nun überschlugen, »mit den Initialen J. C. darauf. Jonathan Christopher. Deshalb hat sie immer geweint, wenn sie es betrachtet hat. Das war seine Haarlocke – die meines Bruders, nicht meines Vaters.«
»Ja.«
»Und als du sagtest ›Clary ist nicht Jonathan‹, hast du meinen Bruder gemeint. Deshalb war Mom auch immer so überfürsorglich – weil sie bereits ein Kind verloren hatte.« Ehe Luke antworten konnte, öffnete sich die Zellentür mit einem metallischen Klang und Gretel betrat den Raum. Das »Verbandszeug«, unter dem Clary sich eine Hartplastik-Box mit aufgedrucktem rotem Kreuz vorgestellt hatte, erwies sich als ein großes Holztablett mit aufgerollten Bandagen und dampfenden Schüsseln voll undefinierbaren Flüssigkeiten und Kräutern, die ein intensives zitronenartiges Aroma verströmten. Gretel stellte das Tablett neben dem Bett ab und bedeutete Clary, sich aufzusetzen, was dieser mit einiger Mühe auch gelang.
»Braves Mädchen«, meinte die Wolfsfrau, tunkte etwas Mull in eine der Schüsseln und tupfte damit sanft das getrocknete Blut von Clarys Gesicht. »Wie hast du denn das geschafft?«, fragte sie missbilligend, als ob sie annähme, Clary sei sich mit einer Käsereibe durchs Gesicht gefahren. »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Luke, der die Prozedur mit verschränkten Armen beobachtete.
»Hugo hat mich angegriffen.« Clary versuchte, nicht zusammenzuzucken, als sich die blutstillende Flüssigkeit beißend auf ihren Wunden verteilte.
»Hugo?«, meinte Luke verblüfft.
»Hodges Vogel. Zumindest nehme ich an, es ist sein Vogel.
Er könnte natürlich auch zu Valentin gehören.«
»Hugin« , sagte Luke leise. »Hugin und Munin waren Valentins zahme Vögel. Ihre Namen bedeuten ›Gedanke‹ und ›Erinnerung‹.«
»Eigentlich sollten sie ›Angriff‹ und ›Tod‹ heißen«, meinte Clary. »Hugo hätte mir fast die Augen ausgekratzt.« »Dafür hat man ihn abgerichtet.« Luke klopfte mit den Fingerspitzen einer Hand auf seinen anderen Arm. »Hodge muss ihn nach dem Aufstand mitgenommen haben. Aber er war immer noch Valentins Geschöpf.«
»Genau wie Hodge«, sagte Clary und verzog das Gesicht, als Gretel die lange Risswunde an ihrem Arm säuberte, die mit Schmutz und getrocknetem Blut verkrustet war, und an schließend verband.
»Clary …«
»Ich will nicht weiter über die Vergangenheit reden«, unterbrach sie ihn aufgebracht. »Sag mir lieber, was wir nun tun sollen. Jetzt hat Valentin meine Mom, Jace und den Kelch. Und wir haben gar nichts.«
»Das würde ich nicht gerade behaupten«, erwiderte Luke.
»Wir haben ein mächtiges Wolfsrudel. Unser Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wo Valentin steckt.«
Clary schüttelte den Kopf und mehrere Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, die sie mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite strich. Mein Gott, ich bin ja völlig verdreckt, dachte sie. Ich würde alles – na ja, fast alles – für eine Dusche geben.
»Hat Valentin nicht irgendeine Art von Versteck? Ein geheimes Lager?«
»Falls er so etwas besitzt«, sagte Luke, »dann ist es ihm wirklich gelungen, das geheim zu halten.«
Inzwischen war Gretel mit Clarys Verband fertig und sie bewegte vorsichtig ihren Arm. Die grünliche Salbe, die Gretel ihr auf die Wunde geschmiert hatte, unterdrückte den Schmerz, aber der Arm fühlte sich noch immer steif und starr an. »Warte mal«, sagte Clary.
»Diesen Spruch werde ich nie verstehen«, meinte Luke. »Ich hatte nicht vor wegzugehen.«
»Könnte Valentin noch irgendwo in New York sein?« »Möglich wär’s.«
»Als ich ihn im Institut sah, kam er durch ein Portal. Magnus erzählte mir, dass es in New York nur zwei Portale gäbe, eines bei Madame Dorothea und eines bei Renwicks. Aber das bei Madame Dorothea ist zerstört und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich dort verstecken würde, also …« »Bei Renwicks?«, meinte Luke verwirrt. »Renwick ist kein Schattenjäger-Name.«
»Und wenn Renwick gar keine Person ist?«, fragte Clary.
»Was ist, wenn damit ein Ort gemeint wäre? Bei Renwicks. So wie ein Restaurant oder … oder ein Hotel oder etwas in der Art.«
Plötzlich schien Luke ein Gedanke zu kommen. Er wandte sich an Gretel, die mit dem Tablett in den Händen auf ihn zutrat und ihn verarzten wollte. »Ich brauche ein Telefonbuch.«
Gretel hielt mitten in der Bewegung inne, das Tablett anklagend vor sich ausgestreckt. »Aber Sir, Ihre Wunden …« »Vergiss meine Wunden und hol mir ein Telefonbuch«,
knurrte er. »Wir sind in einer Polizeistation, da sollten genug alte Exemplare herumliegen.«
Gekränkt stellte Gretel das Tablett auf den Boden und marschierte aus der Zelle. Luke warf Clary über seine halb auf der Nase thronende Brille einen Blick zu und meinte: »Schlaues Mädchen.«
Clary schwieg. Ihr Magen fühlte sich an wie ein einziger fester Klumpen und sie hatte das Gefühl, als müsse sie um ihn herumatmen. Irgendwo in ihrem Gehirn meldete sich ein winziger Gedanke, der sich den Weg zu einer ausgewachsenen Erkenntnis bahnen wollte. Doch sie schob ihn mit Macht beiseite – im Augenblick konnte sie es sich nicht leisten, ihre Energie an Dinge zu verschwenden, die nichts mit den aktuellen Problemen zu tun hatten.
Gretel kam mit einem feucht wirkenden Branchenbuch zurück und warf es Luke hin. Er blätterte die Seiten im Stehen durch, während die Wolfsfrau sich mit Verbänden und klebrig aussehenden Salben an seinen Verletzungen zu schaffen machte. »Es gibt sieben Renwicks im Telefonbuch«, sagte er schließlich. »Aber keine Restaurants, Hotels oder Ähnliches.« Er schob seine Brille hoch, die jedoch sofort wieder ein Stück nach unten rutschte. »Die aufgeführten Renwicks sind alles keine Schattenjäger«, fuhr er fort, »und es erscheint mir unwahrscheinlich, dass Valentin sein Hauptquartier im Haus eines Irdischen oder Schattenwesens aufschlägt. Obwohl, vielleicht …«
»Habt ihr ein Telefon?«, unterbrach Clary ihn.
»Ich hab meins nicht dabei.« Luke schaute Gretel an.
»Kannst du uns das Telefon holen?«
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