Von China bis Indien, Afrika, Norwegen und Sibirien und in allen Ländern, die dazwischen lagen, berichteten die Geschichtsbücher von Drakes Eroberungen und Untaten. Er hatte die Menschheit von Anfang an begleitet, hatte zugesehen, wie sich die menschliche Rasse vermehrte und bis zur Unkenntlichkeit veränderte, und so wie die Schlange im Garten Eden tat er alles, um den Glauben der Menschen an Erlösung zu zerstören und alle, die seinen Weg kreuzten, in das reinste Böse zu verwandeln.
Am wichtigsten von allem war aber, dass er eine neue Rasse zeugte, seine eigene Spezies: hominus nocturna.
Den Vampir.
Mit der Zeit jedoch verblasste der Ruhm der Vampirrasse.
Drake hatte es gespürt. Während er zu vollkommener Stärke und Unsterblichkeit gelangt war und ähnlich wie der große Weiße Hai die Spitze der Evolution seiner Spezies verkörperte, hatten sich seine Kinder verändert.
Über die Jahrtausende hinweg beobachtete er, wie der Kontakt seiner Rasse mit den verfluchten Menschen sie schwächte, bis ein Punkt in ihrer Entwicklung erreicht war, an dem es ihnen nicht länger möglich war, sich im Sonnenlicht aufzuhalten. Nur ein flüchtiger Kontakt mit einem Sonnenstrahl genügte, um sie sofort in Flammen aufgehen zu lassen. Diese elende Schwäche hatte so rasch um sich gegriffen, dass nicht einmal er selbst um das genaue Ausmaß wusste.
Danica hatte ihm von den Experimenten erzählt, die die Vampirnation in den Jahrhunderten seit seinem Verschwinden durchgeführt hatte. Sie erklärte ihm, dass eine bestimmte Wellenlänge des Sonnenlichts – etwas, das sie als ultraviolettes Licht bezeichnete – die Schädigung verursachte. Diese spezielle Frequenz durchdrang die hypersensiblen Zellen eines Vampirs und entzündete den in hoher Konzentration gespeicherten Phosphor, was zu einer unaufhaltsamen Kettenreaktion führte, die den Körper auf der Stelle verbrannte.
Schön und gut, doch Drake wusste, was wirklich dahintersteckte. Diese niederen Vampire wurden in Wahrheit für ihre Bedeutungslosigkeit, Arroganz und Gedankenlosigkeit bestraft.
Drake erinnerte sich daran, wie sich diese Schwäche erstmals in den einfacheren Angehörigen seiner Art gezeigt hatte: verzweifelten Mischlingen, die sich von denen ernährten – und sie gedankenlos ebenfalls zu Vampiren machten –, die selbst von den Menschen gemieden wurden, sei es, dass sie wahnsinnig waren, die Pest oder eine andere Krankheit hatten, und die von Rauschgiften abhängig waren.
All das hatte dazu geführt, dass der Segen, den Drake so freimütig den Ersten seiner Art geschenkt hatte, verdreht und verwässert wurde. Hinzu kamen Jahrtausende der Inzucht, die das Blut zusätzlich schwächten. Bei manchem Vampir war Drakes Blutlinie so verseucht worden, dass die infizierten Vampire fast so etwas wie eine gänzlich andere Spezies waren.
Im Lauf der Jahre hatten mehr und mehr Vampire diese Störung geerbt, bis Drakes entfernteste und am stärksten degenerierte Nachkommen sich gegen ihn und die wenigen noch lebenden Kinder reinen Blutes erhoben. Aus Eifersucht auf ihre Kraft und ihre Unempfindlichkeit gegen Sonnenlicht begannen die niederen, zahlenmäßig aber überlegenen Vampir die zu jagen, die reinen Blutes waren, und sie zu töten, wo immer sich die Gelegenheit dazu ergab.
Sie machten Drake krank. Er hasste die Mischlinge für ihren mangelnden Respekt und ihre unberechtigte Arroganz, und er begann, die reinen Blutes waren, zu verabscheuen, da ihre Angst vor den niederen Vampiren immer größer wurde.
Darum hatte er sich von ihnen zurückgezogen. Von ihnen allen.
Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts kehrte er in sein Geburtsland zurück und achtete darauf, allen Siedlungen von Mensch und Vampir aus dem Weg zu gehen. Dann ging er buchstäblich in den Untergrund. Er hoffte, wenn er irgendwann aus seinem Schlaf erwachte, würden sich seine Nachkommen selbst von ihrer Dummheit und ihren Schwächen geheilt oder aber sich gegenseitig vollständig ausgelöscht haben. Bis zu diesem Tag wollte Drake mit seiner degenerierten Nachkommenschaft nichts mehr zu tun haben.
Wie sich herausstellte, hatte sein Schlaf bloß drei Jahrhunderte gedauert, ehe Danica und ihre Trottel ihn gefunden und ihn gegen seinen Willen ins einundzwanzigste Jahrhundert gezerrt hatten.
Nachdem er seinen Hunger genügend gestillt hatte, um ein vollständig menschliches Aussehen anzunehmen, bat Drake Danica, ihn zu denen zu fuhren, die reinen Blutes waren, vorausgesetzt, in dieser Ära lebten noch welche von ihrer Art. Doch sie erwiderte, einige von ihnen würden zwar noch leben, doch die größte Enklave in der Region war von einer Kreuzung aus Vampir und Mensch ausgelöscht worden, einem Abtrünnigen, der als der Daywalker bekannt war.
Sie sagte ihm, der Daywalker sei zu einem Fluch für alle Vampire oder nicht, ob reinen Blutes oder nicht, denn er schlachtete sie alle mit der gleichen Verachtung und mit scheinbarer Leichtigkeit ab.
Drake ließ seine Gedanken in die Gegenwart zurückkehren und lächelte flüchtig.
Er würde gern diesen Daywalker kennen lernen. Er war neugierig, einem Vampir gegenüberzutreten, der sich im Sonnenschein bewegen konnte, so wie es allen Kindern von Drake hatte möglich sein sollen. Einem Vampir, der seine eigene Art so leidenschaftlich hasste, dass er sie als Spezies auslöschen wollte.
In gewisser Weise konnte Drake mit dem Daywalker sogar mitfühlen.
Nach den spärlichen Informationen, die Danica ihm gegeben hatte, stellten die Vampire nur einen winzigen Anteil an der gesamten Bevölkerung. Und offenbar glaubten die meisten Menschen gar nicht an die Existenz von Vampiren. „Moderne“ Vampire – soweit Drake das richtig verstanden hatte – bevorzugten ein Leben im Untergrund und waren in exklusiven Kreisen und Gesellschaften organisiert. Ihre Treffpunkte und ihre Verbündeten erkannte man nur, wenn man die weitverbreiteten Vampirschriftzeichen erkannte, eine hässliche Kurzschrift, die aus den wenigen erhalten gebliebenen Texten der Sumerer abgeleitet war.
Ein Stirnrunzeln prägte einen Moment lang Drakes ausgesprochen schönes Gesicht. Es war ein Trend, der vor vielen Jahrhunderten eingesetzt hatte, aber er mochte ihn heute so wenig wie damals. Die Vampire versteckten sich vor den Menschen seit der Zeit, da die Degeneration ihrer Linie eingesetzt hatte. Doch sie versteckten sich nicht in der Form, die Drake betrieben hatte. Er war von Nation zu Nation gereist. Dabei hatte er immer neue Namen und Identitäten angenommen, um bei allen Völkern Angst und Entsetzen auszulösen, damit die unbedeutenden Menschen erkannte, dass es nach wie vor Dinge gab, die größer waren als sie. Dinge, denen sie unterlegen sein würden, ganz gleich, welchen Reichtum, welche Macht oder welchen Status sie hatten.
Nein, die Vampire der Gegenwart schienen sich zu verstecken, da sie fürchteten, von den Menschen entdeckt und verfolgt zu werden. Doch wenigstens verhielten sie sich Drake gegenüber so respektvoll, wie es auch angemessen war. Und sie schienen die Grundlagen für eine Technik gefunden zu haben, die sie von ihrer geerbten Schwäche befreien und wieder zu den lebenden Göttern werden ließen, die sie seinem Willen nach hatten sein sollen.
Vielleicht gab es ja noch Hoffnung für sie. Denn auch wenn die Menschheit mehrheitlich nicht an Vampire glaubte, erinnerte man sich doch auch an ihn – wenn auch aus einer Zeit, als er einen anderen Namen trug. Wenn das stimmte, war es ein gutes Zeichen.
Doch er konnte sich nicht auf die Speichelleckerei von Danica und den anderen verlassen.
Er wandte sich vom Fenster ab und ging durch den Korridor, bis er die nach unten führende Treppe erreicht hatte.
Er würde selbst nach den Hinweisen auf sein großes Vermächtnis suchen.
Eine finstere Gestalt bewegte sich durch die rußgeschwärzten Straßen im Geschäftsviertel von Downtown. Autohupen ertönten, Hot-Dog-Verkäufer schrieen ihre Preise in die Menge, während Drake auf dem Boulevard entlangging. In seiner lässigen Kleidung fiel Drake inmitten der Menschen nicht auf, die sich an diesem warmen Abend auf den Bürgersteigen drängten.
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