Es war die Gestalt, die unter Kinderbetten lauerte, mit rotglühenden Augen, während sie darauf wartete, zuzuschlagen und sich zu laben…
Die Gestalt, die Jugendlichen nachts durch die Straßen folgte, aber immer außerhalb des Lichtscheins der Straßenlaternen blieb…
Die Gestalt, die erwachsene Männer dazu brachte, nachts um drei schreiend aufzuwachen und sich am Bettzeug festzuklammern, um dann nach Schatten zu schlagen, die sich in der Morgendämmerung auflösten…
Und nun endlich war der Alptraum freigelassen worden.
Und er war in die reale Welt gelangt.
Drake schleuderte den blutleeren Leichnam der jungen Frau in eines der übervollen Regale. Während er dabei einen Ständer mit Buffy-Figuren umriss, hatte sich Drake bereits abgewandt und stieß ein markerschütterndes Wutgebrüll aus, das zur schwarzgestrichenen Decke gerichtet war.
Der Schrei, der nicht von dieser Erde zu sein schien, hallte in den Betonschluchten von Downtown wider und wurde von einem Chor aus jaulenden Hunden beantwortet, die durch die Seitenstraßen streunten.
Die Botschaft war unmissverständlich.
Die Menschen würden für ihre Ignoranz teuer bezahlen.
Als der Morgen anbrach, gesellten sich die anderen zu Blade und King in den Waffenraum des Nightstalker-Hauptquartiers.
Die beiden hatten sich die ganze Nacht hindurch unterhalten. Blade war hellwach, angetrieben vom Adrenalinstoß der Ereignisse. King rieb sich die Augen und gähnte. Die Oberlichter waren geöffnet worden, grelle weiße Sonnenstrahlen fielen in den Raum und streiften ihre Schultern mit Wärme.
Gemeinsam saßen sie da und schwiegen nachdenklich, während sie zusahen, wie aus einer Kanne mit schwarzem Kaffee Dampf aufstieg.
Blade dachte über das nach, was King ihm berichtet hatte. Sie hatten die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden aus jedem nur denkbaren Blickwinkel diskutiert, aber er war noch immer kein bisschen schlauer, was die Vampire vorhatten. Er lehnte sich nach hinten gegen die ramponierte Werkbank und streckte seine muskulösen Arme in die Höhe, während er sich das Geschehene noch einmal durch den Kopf gehen ließ: die verstärkten Vampir-Aktivitäten der letzten drei Monate, Draculas Existenz und seine Auferstehung, der Versuch der Vampirgang, ihm einen Mord anzuhängen.
Irgendeinen Zusammenhang musste es zwischen diesen Dingen geben.
Blade tippte unschlüssig mit den Fingern auf die Platte der Werkbank. „Warum wecken sie ihn ausgerechnet jetzt auf?“
Abigail fuhr mit einer Hand durch Zoes Haar, während sie sich mit abwesender Miene in dem vollgestellten Labor umsah. „Das versuchen wir ja herauszufinden.“
King drehte sich nachdenklich zu Blade um. „Als ich Vampir war, wurde von einer Vampir-Endlösung gesprochen.“ Er rieb sich den Nacken und sagte mehr zu sich selbst: „Aber ich habe nie begriffen, warum sie ihre Nahrungsquelle auslöschen wollten.“ Wieder sah er zu Blade: „Das wäre doch dumm, nicht wahr? Sie haben schon immer irgendwelche Pläne für die menschliche Rasse geschmiedet, aber so wie es aussieht, ist Draculas Rückkehr Teil dieser Planungen.“
Blade nickte nachdenklich.
King stützte sich auf die Werkbank und betrachtete die Sonnenstrahlen, die durch die offenen Fenster fielen. „Seien wir doch mal ehrlich, Blade. Wir stehen auf verlorenem Posten. Jedes Jahr bringen wir ein paar Hundert von ihnen um, na und? Tausende Vampire sind da draußen unterwegs. Vielleicht sogar Zehntausende. Wir brauchen eine neue Taktik.“
Blade zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Zum Beispiel?“
King beugte sich vor, seine Augen blitzten auf. „Eine biologische Waffe.“
Sommerfield begab sich zu ihrer Braille-Tastatur und tippte etwas ein. Sie lächelte, als sie sich wieder umdrehte. „Für diejenigen unter euch, die sehen können – hier gibt es was für euch.“
Blade und King drehten sich um, als ein Flachbildmonitor gleich neben ihnen anging und das Bild eines vergrößerten Virus zeigte, das sich in Echtzeit vermehrte. Während sie zusahen, teilte sich das Virus immer weiter, bis nach wenigen Sekunden nur noch eine schwarze Zellmasse zu sehen war.
Sommerfield betätigte eine andere Taste und holte eine der sich bewegenden Viruszellen heran, die sich so schnell teilte, dass der Ablauf fast nur noch verwischt zu sehen war. „Das ganze letzte Jahr über habe ich mit synthetischer DNS experimentiert, um ein künstliches Virus zu erschaffen, das speziell auf Vampire ausgerichtet ist. Wir nennen es DayStar.“
King stand begeistert auf. „Überleg doch, Blade. Wir könnten sie alle mit einem Schlag vernichten.“
„Und was hat euch bislang davon abgehalten?“ gab Blade zurück, der nicht überzeugt war.
Sommerfield seufzte. „Wir haben es bei mehreren Gefangenen getestet. Den Krankheitsvektor haben wir gut im Griff, es wird leicht übertragen. Aber es wirkt nicht bei jedem Vampir tödlich.“
Abigail stand auf: „Was wir brauchen, ist eine bessere DNS-Probe.“ Sie wandte sich ab und sah nachdenklich aus dem Fenster. „Wir brauchen Draculas Blut.“
Blade starrte sie nur an.
Sommerfield schaltete den Computer aus. „Vampir-DNS ist ein Mischmasch aus verschiedenen Genen, die mit allen möglichen Arten von Junk-DNS durchsetzt ist.“ Sie zeigte auf eine Wandtafel. „Da Dracula der Urvater der Vampirrasse ist, besitzt er die völlig reine Basis-DNS. Sie wurde nicht über Hunderte von Generationen verdünnt. Sie besitzt alle erforderlichen Zellverbindungen, um das Virus zu kodieren.“ Sie unterbrach sich kurz. „Wenn wir sein Blut haben, können wir DayStar auf hundertprozentige Wirkung verbessern.“
King wandte sich zu Blade um und sah, wie diese Erkenntnisse auf ihn einwirkten. Das Gesicht des Daywalkers war so ausdruckslos wie immer, doch King konnte mit ziemlicher Sicherheit sagen, was ihm durch den Kopf ging. Er konnte fast hören, wie sich die Rädchen in seinem Gehirn drehten.
Blade ignorierte Kings begierige Blicke, als er überlegte. Ein Virus, das die Vampire auslöschen konnte – nicht nur hier in der Stadt, sondern auf der ganzen Welt.
Das war eine gewaltige Sache, eine wirklich gewaltige Sache.
Es würde bedeuten, dass sein lebenslanger Kampf gegen die Blutsauger ein Ende hätte, ein Sieg, von dem letztlich die ganze Menschheit profitieren würde. Hunderttausende von Menschenleben konnten so gerettet werden, eine ganze Generation, die nicht mehr den Schmerz erleben musste, wie ein Mitglied der Familie unter mysteriösen Umständen ums Leben kam oder verschwand.
Und was noch wichtiger war: Es würde ihm Erlösung bringen, ein Ende der täglichen Gewalt und des Tötens – Dinge, die ihn langsam von innen heraus aufzehrten und seinen letzten Rest von geistiger Gesundheit angriffen, die seine Seele mit getrocknetem Blut befleckten, während die Zahl der Tötungen von Tag zu Tag anstieg.
King stieß Blade gutgelaunt an. „Also? Wirst du Mitglied in unserem Club? Du bekommst dann auch einen streng geheimen Nightstalker-Decodierring.“
Drake saß in seinem abgedunkelten Vorzimmer in den Phoenix Towers. Bei Sonnenaufgang war er zurückgekehrt und hatte sich seitdem hier aufgehalten. Bislang hatte aus Furcht vor seinem Zorn niemand gewagt, nach ihm zu sehen. Immerhin hatte er bereits zwei Vampirwachen schwer verletzt, nur weil sie es gewagt hatten, ihm vorzuschlagen, er solle statt der Treppe doch den Aufzug nehmen. Wie es schien, war Drake mit der modernen Welt gar nicht zufrieden.
Der König der Vampire saß schweigend da, die Gedanken in den trüben Regionen der Vergangenheit. Schatten lagen wie finstere Seile über seinem Körper und fesselten ihn an die Gegenwart. Die einzige Lichtquelle im Raum bildete eine Reihe von kleinen Oberlichtern in der Decke, durch die blendend weißes Licht fiel, das sich wie ein Messer durch die Finsternis schnitt.
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