Der Pfeil überwand die Distanz innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde und bohrte sich tief in Grimwoods rechtes Auge. Der schrie auf und fiel wie ein Stein zu Boden, überschlug sich mehrere Male und blieb schließlich als Knäuel aus Gliedmaßen liegen. Dex gab Gas. Er wollte Grimwood schnellstmöglich hinter sich lassen, ganz gleich, ob der den Pfeil überleben würde oder nicht.
Schließlich konnten die vier sich entspannen und den Adrenalinschub eines erfolgreich ausgetragenen Kampfs genießen. Der Motor schnurrte zufrieden, als sie sich der Interstate näherten. Das Schweigen im Wagen wurde von Dex’ Mobiltelefon unterbrochen. Er nahm das Gespräch an und lauschte kurz, dann sagte er: „Wir haben ihn. Wir sind bald da.“
Er schaltete das Telefon wieder aus und drehte sich zu Blade herum. „Und was sagst du zu meinem Auftritt vor der Wache? Zu übertrieben? Oder genau richtig?“
Auf dem Rücksitz löste King seinen Harnisch. Darunter kam eine kugelsichere Weste zum Vorschein. Die Vorderseite dieser Weste wies zahllose Beulen auf. King rieb sich die Rippen und seufzte erleichtert, froh darüber, wieder durchatmen zu können. Morgen früh würde er zweifellos einige sehr interessante blaue Flecke vorweisen können.
King sah auf und bemerkte, dass Blade ihn beobachtete. Sofern man in Blades ausdruckslose Miene überhaupt irgend etwas hineininterpretieren konnte, hätte King schwören können, dass der Daywalker zumindest ein wenig beeindruckt dreinblickte. Er nahm Kings ramponierten Harnisch an sich und betrachtete ihn. „Wer seid ihr eigentlich?“
King schluckte vor Stolz. „Ich bin Hannibal King. Ich bin ein Jäger, so wie du.“ Er deutete auf die Frau neben ihm. „Und diese kleine Range ist Abigail.“
Sie sah Blade nur stumm an. So vieles war ihr über den Daywalker schon zu Ohren gekommen, dass sie das Gefühl hatte, ihn in- und auswendig zu kennen. Seit Jahren hatte sie ihn schon treffen wollen, doch ihr Vater hatte es ihr verboten.
Jetzt endlich war es doch noch dazu gekommen, aber sie empfand unerklärliche Angst vor ihm.
Dass sie so fühlte, ärgerte sie, und sie riss sich rasch zusammen und errichtete einen imaginären Schutzwall um ihre Gefühle herum.
Blade erwiderte Abigails Blick und legte den Kopf ein wenig schräg, als versuche er, sie irgendwo einzuordnen. Während er sie weiter ansah, kniff sie ein wenig die Augen zusammen und hob den Kopf an, um ihm zu signalisieren, dass sie zum Kampfbereit war, wenn er es darauf anlegte. Es war nur eine minimale Bewegung, doch in Blades Gehirn weckte sie eine bestimmte Erinnerung. Er hatte diese Geste Tausende von Malen gesehen.
„Du bist Whistlers Tochter, stimmt’s?“, fragte Blade, obwohl es mehr ein spontan ausgesprochener Gedanke war, der ihm ungewollt über die Lippen gekommen war.
King lächelte, als er sah, wie Blades Miene ein wenig starrer wurde, auch wenn das kaum möglich schien. Er begann bereits, den Kerl zu durchschauen. „Stimmt, Blade.“
Er lehnte sich auf dem warmen Ledersitz nach hinten, während der Wagen in Richtung Küste über den Highway rumpelte. „Du musst wissen, Abby, Dex und ich… wir sind alle Teil von Whistlers Notfallplan.“
King griff in seine Tasche und zog ein Päckchen Kaugummi heraus. Er nahm einen Streifen, dann hielt er Blade das Päckchen hin. „Etwas für die Beißerchen?“
Blade starrte ihn nur an, während King den Streifen in den Mund steckte, zu kauen begann und sich dann mit einem Schulterzucken wieder nach hinten lehnte.
Das würde eine lange Fahrt werden.
Während die Nacht hereinbrach, fuhren Blade, Abigail, Dex und King mit dem Land Cruiser durch eine verlassene Schiffswerft zu den von Unkraut überwucherten Ruinen eines aufgegebenen Trockendocks. Blade sah nachdenklich aus dem getönten Seitenfenster, als der Cruiser an den skelettartigen Überresten alter Schlepper, schrottreifen Gabelstaplern und verschiedenen anderen verrosteten Überbleibseln einer einst blühenden Werft vorbeifuhr. Es herrschte völliges Chaos, und wenn Blade es nicht besser gewusst hätte, wäre er überzeugt gewesen, sich auf einem echten Schrottplatz zu befinden.
Der Land Cruiser holperte auf einem von Unrat und Trümmern übersäten Betonweg und bog auf eine ausladende überdachte Anlage ab, die von aufeinander gestapelten Containern und Betonbauten umgeben war. Der Platz war verlassen, der Wind pfiff über die Container und rappelte am Gebälk, als wolle er die herrschende Trostlosigkeit zusätzlich unterstreichen.
Der Cruiser erreichte das Verladebecken und Dex stellte den Motor ab.
In der eintretenden Stille konnte Blade nichts anderes hören als das Flattern einer Abdeckplane im Wind und das ferne Rauschen des Meeres. King und Abigail lösten ihre Sicherheitsgurte und stiegen aus. Blade folgte ihnen.
Der überdachte Bereich war düster und hatte etwas Höhlenartiges an sich, es roch intensiv nach Meersalz und Maschinenöl. Ein Licht flammte in der Dunkelheit auf, als Dex den Lichtschalter gleich neben dem Tor umlegte. Blade sah im’ Halbdunkel, dass gut ein halbes Dutzend Fahrzeuge darauf wartete, mit Panzerungen und Waffen ausgerüstet zu werden. Es gab ein kleineres Heer an Softail-Motorrädern, die alle in verschiedenen Umbauphasen steckten, sowie eine Handvoll Buell-Sportmotorräder, die ringsum an die Wände gelehnt waren. High-Tech-Werkzeuge und Drehbänke beanspruchten den verbleibenden Platz und warfen unheimliche Schatten auf den Boden.
Ein leises Summen ließ Blade aufhorchen. Er entdeckte eine Reihe von Überwachungskameras, die über ihm montiert waren und die jede seiner Bewegungen im Raum verfolgten.
Blade spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Das alles war ihm so vertraut, dass er seinen Atem anhielt, als er sich umsah. Fast hatte er gehofft, dass jeden Moment eine graubärtige Gestalt unter einer Motorhaube hervorkroch, sich die Hände an einem ölverschmierten Lappen abwischte und ihm anschließend vorhielt, was er nun wieder verkehrt gemacht hatte.
Was immer das für ein Ort war, er trug eindeutig die Handschrift des alten Mannes.
Ohne sich umzudrehen sah Blade zu King und sagte leise: „Ich dachte, die Vampire hätten Whistlers ganze Familie umgebracht.“
Abigail tauchte hinter ihm auf. „Das hatten sie auch. Ich kam später zur Welt, unehelich.“ Sie stellte sich neben Blade und betrachtete die Maschinen und die Ausrüstung. „Nach den Morden versteckte er mich. Er wollte, dass ich in Sicherheit war, weit weg von all diesen Dingen.“ Sie machte eine ausholende Geste, die die gesamte Werkstatt einbezog. „Aber ich schätze, die Jagd liegt uns im Blut.“
King bedeutete Blade, ihm zu folgen, und ging zu einer Treppe im hinteren Teil der Werkstatt. Schlamm und Algen machten die Stufen rutschig, die nach unten in das alte Trockendock führten.
Blade hatte das Gefühl, sich nicht in der Realität zu bewegen. Noch keine zweiundsiebzig Stunden war es her, da hatte er sich bei einer Tasse Kaffee mit Whistler darüber unterhalten, wer sich wohl als Vampirjäger besser machen würde – Batman oder Wolverine. Jetzt war Whistler tot, und sein eigenes Leben war buchstäblich ruiniert – und nun war es durch diese seltsame alternative Realität ersetzt worden. Wie konnte Whistler dies alles vor ihm geheimhalten? Es schien, als stecke der Mann nach wie vor voller Überraschungen, auch wenn er nicht mehr lebte.
Ein leises Geräusch ließ Blade aufhorchen und nach oben blicken. Diesmal sah er ein kleines Mädchen, das vielleicht fünf Jahre alt sein mochte und ihn aufmerksam von einem der Container aus beobachtete. Als es merkte, dass er es entdeckt hatte, duckte sich das Mädchen und zog sich mucksmäuschenstill in den Schatten zurück.
Blade schüttelte den Kopf.
Noch mehr Geheimnisse.
Er ging weiter zum Fuß der Treppe.
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