Blade erhob sich unsicher. Er hätte schwören können, dass diese Pyramide eben noch nicht da gestanden hatte. Doch das war die Geringste seiner Sorgen. Er blickte über die Schulter und sah, dass die Vampire ihm wieder nacheilten und mit gebleckten Zähnen auf Whistler zuliefen. Blade öffnete den Mund, um seinen Mentor zu warnen, ihn zur Flucht aufzufordern, solange noch Zeit dafür war.
Doch bevor er ein Wort herausbringen konnte, stand Whistler seltsamerweise plötzlich neben ihm. Blade wandte sich überrascht um, als der alte Mann hinter ihn griff und mit einem sanften metallenen Zischen das Schwert aus Blades Scheide auf dem Rücken zog.
Aber… das war gar nicht sein Schwert.
Die Waffe, die Whistler in der Hand hielt, sah viel älter aus und war aus narbigem, geschwärztem Metall geschmiedet worden. Während Blade die Szene verwirrt beobachtete, legte Whistler ihm auf einmal die Hand auf die Schulter und lächelte ihn freundlich an.
Im nächsten Augenblick trieb er die Klinge bis zum Heft mitten in Blades Brust.
Der schnappte nach Luft und packte Whistler an den Schultern, als das heiße Blut über sein zerrissenes Hemd lief. Schockiert starrte er seinen Mentor an, dessen Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte. Dann aber wurde sein Lächeln breiter und ließ spitze, geschwungene Eckzähne erkennen.
Blade wusste, dass er endgültig verloren war.
Seine Knie gaben unter ihm nach und er fiel zu Boden. Um ihn herum nahm die Schwärze Form an und wirbelte von einem unsichtbaren Himmel herab. Während Blade sich auf dem Boden wand und nach Luft schnappte, bildete die Schwärze eine Spirale, die, einer Windhose gleich, alles in ihrem Umfeld mit sich riss. Als sie die Pyramide erreichte, drang ein lautes Krachen durch die Nacht. Wie gelähmt sah Blade, wie die Pyramide hinter den Vampiren von schwarzen Rissen durchzogen wurde, die wie die Negative von Blitzen aussahen.
Die Vampire schienen nichts von der immensen Zerstörung mitzubekommen, die sich hinter ihnen abspielte, da sie wieder Blade bedrängten und umherstießen. Einer nach dem anderen holten sie hölzerne Pflöcke hervor. Blade wollte aufschreien, doch der Wind trug seine Stimme mit sich. Ehe er sich versah, hatten sich die Vampire abermals auf ihn gestürzt, drückten seinen Rücken fest auf den Untergrund und bohrten ihre Pflöcke in seine Hand- und Fußgelenke und durch seine Schultern. Blade verspürte dabei keinen Schmerz, nur einen deutlichen Druck, der umso stärker wurde, je mehr Pflöcke in seinen Körper getrieben wurden.
Hilflos musste er mit ansehen, wie Whistler vortrat und sich vor ihm aufbaute. Er hielt immer noch das antike Schwert in der Hand. Langsam begann aus dem Weiß der Augen des alten Mannes eine ölige schwarze Substanz zu tropfen. Whistler trat einen Schritt vor und setzte die Schwertspitze auf Blades nackte Brust. Dann begann er, ein Muster in das Fleisch zu schneiden, wobei das Metall zischte und kreischte, als sei es rotglühend.
Blade biss die Zähne zusammen. Der Schmerz ging durch und durch, aber er war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den er bei Whistlers Tod empfunden hatte. Während der Wind immer heftiger und lauter wurde, nahm er am Rande wahr, dass die gewaltigen Lehmblöcke, aus denen die Pyramide errichtet worden war, sich im Wind bewegten, Risse bekamen und zerfielen, so dass Bruchstücke durch die Luft gewirbelt wurden. Ein tiefes Poltern erschütterte die Erde, als wolle der Boden nachgeben und sie alle in den finsteren Untiefen begraben.
Whistler hatte unterdessen sein Muster vollendet und zog sein Schwert weg. Dann legte er den Kopf schräg, um seine Arbeit zu begutachten. Es war eine winzige Geste, die Blade aber so vertraut war, dass ihm fast die Tränen gekommen wären. Als er einen Blick auf seine Brust warf, erkannte er, dass ein großes, recht grobschlächtiges Vampirschriftzeichen in seine Haut geschnitten worden war, dessen Umrisse von durchtrenntem Fleisch und rotem Blut gebildet wurden.
Beim Anblick des Schriftzeichens überkam Blade ein überwältigendes Gefühl der Furcht. Er war schon einmal hier gewesen, und jetzt erinnerte er sich auch daran, was als Nächstes kommen würde. Er wollte sich von den Pflöcken befreien, doch ihm fehlte längst die Kraft dafür. Er konnte nur zusehen, wie Whistler das Schwert hoch über seinen Kopf hob und ihn mit diesen schrecklichen schwarzen Augen anstarrte. Der Wind erreichte inzwischen die Stärke eine Hurrikans, der die Luft in kreischende Wirbel zerriss und die anderen Vampire wie Herbstlaub mit sich in den Himmel aufsteigen ließ.
Mit einem unglaublichen Krachen wurde die Pyramide vom Sturm zerrissen, die Wände flogen nach oben und zur Seite, als hätte sich im Inneren eine Explosion zugetragen. In ihrem Mittelpunkt war eine gähnende schwarze Leere zu sehen, aus der sich windende, schwarze Schatten austraten. Die breiteten sich zischend und kreischend in einer dunklen Welle auf der Erde aus, bis es so schien, als würden diese Geräusche die ganze Welt erfüllen und sogar noch das Tosen des Sturms übertönen.
Während Blade auf dem Boden lag und tonlos schrie, trat Whistler lächelnd ganz nah an ihn heran. Das antike Schwert sauste nach unten und bohrte sich mit entsetzlicher Geschwindigkeit in Blades Herz…
Blades Körper zuckte im Schlaf, seine Augen bewegten sich hastig hinter den geschlossenen Lidern. Dann wurde sein Atem gleichmäßiger. Er begann sich zu regen, als er langsam aufwachte und durch die schwarzen Gezeiten des Schlafs zur Oberfläche aufstieg.
Sein Bewusstsein kehrte allmählich zurück, und Blade konnte nach und nach seinen Körper wieder wahrnehmen. Arme und Beine fühlten sich merkwürdig schwer an, in seiner Brust verspürte er ein eigenartiges, dumpfes und zugleich kribbelndes Gefühl, als hätte ihn jemand mit einem Eispickel getroffen.
Blade runzelte die Stirn und versuchte, sich wieder abdriften zu lassen, doch es half nichts. Irgend etwas versuchte, sein Bewusstsein in das Land der Lebenden zurückzuholen, etwas Fröhliches und Gehässiges, das ihm ins Ohr flüsterte, dass es ganz gleich war, was er beim Erwachen sehen würde – es würde ihm nur noch mehr Schmerz bereiten.
„Aufwachen, Schlafmütze.“
Blade stöhnte und versuchte, sich an dem kostbaren Moment des grauen Vergessens festzuklammern, der den Schlaf vom Wachsein trennte. Er fühlte sich schwach und ausgemergelt. Sein ganzer Körper schmerzte, und es kam ihm so vor, als sei sein ganzer Kopf voller kleiner wütender Moskitos, die sich einen Weg aus seinem Schädel fressen wollten.
Er kniff die Augen zusammen, um in das gnädige Nichts des Schlafs zurückzukehren, doch eine leise Stimme irgendwo in seinem Hinterkopf schrie ihn an. Er ignorierte sie, aber sie wurde lauter. Blade wollte eine Hand an den Kopf nehmen, um seine Schläfe zu reiben, doch er musste feststellen, dass er an den Handgelenken gefesselt war.
Scheiße.
Es half alles nichts.
Seufzend öffnete er langsam die Augen.
Er befand sich in einem kleinen rechteckigen Raum ohne Fenster. An der Decke hingen zwei gelbliche, summende Neonröhren. Zwei ausgesprochen verärgert dreinblickende Männer mittleren Alters saßen ihm an einem langen Metalltisch gegenüber und sahen ihn finster an. Einer von ihnen war groß und wirkte streng, der andere war deutlich kleiner und trug ein Toupet, das eher danach aussah, als sei irgendein Tier auf seinem Kopf verendet. Sie waren beide lässig gekleidet, dennoch wirkte es so, als würden sie diese Kleidung wie eine Uniform tragen. Hinter ihnen befand sich ein großer Spiegel, durch den man von der anderen Seite sehen konnte. In einer Ecke hing eine Überwachungskamera, deren rotes Licht anzeigte, dass die Aufnahme lief. Sie machte surrende und klickende Geräusche, als sie näher an Blade heranzoomte.
Blade stöhnte auf. Das sah alles andere als vielversprechend aus. Er tastete mit der Zunge seine Mundhöhle ab und versuchte, den Kopf zu heben, der so schwer wie eine Kanonenkugel war. „Wer…“
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