Aber Kommodor Marphissa nickte nur zustimmend. »Ja, Madam Präsidentin. Das ist korrekt. Wir können nicht darauf hoffen, eine der beiden Streitkräfte zu schlagen, weder die Enigmas noch CEO Boyens’ Flotte. Wenn wir jedoch unsere Schiffe zusammenschließen, dann stehen meine Chancen besser, ihnen einige schwere Treffer zuzufügen, bevor meine Kriegsschiffe zerstört werden. Wir werden kämpfen, so lange wir das können.«
Nun zögerte Iceni. Diese unerwartete Wendung hatte sie aus dem Konzept gebracht. Keine Forderungen, kein Todeskuss? Dafür das Angebot sich für die anderen zu opfern? Ist das nicht nur Gerede? Glaubst du wirklich an das, was du da sagst? »Kommodor«, entgegnete Iceni fest entschlossen, alles auszusprechen, was hier eine Rolle spielte. »Ihnen ist doch bewusst, dass ich Sie zu einem solchen Vorgehen nicht zwingen kann. Ihnen sind sicher auch die anderen denkbaren Optionen bewusst.«
Wieder nickte Marphissa. »Selbstverständlich sind mir die bewusst, Madam Präsidentin.«
»Und warum wollen Sie bleiben und kämpfen, Kommodor?«, hakte sie nach.
»Das tue ich für das Volk, Madam Präsidentin.«
»Was haben Sie gerade gesagt?«, fragte Iceni, die davon überzeugt war, dass sie nur den Rest von Marphissas Antwort gehört hatte.
»Ich bleibe zusammen mit dieser Flotte hier, um für das Volk zu kämpfen, Madam Präsidentin.«
Auch jetzt brauchte Iceni einige Zeit, ehe sie antworten konnte, da sie erst nach den richtigen Worten suchen musste. »Für das Volk? Sie wollen einen aussichtslosen Kampf für ein Volk austragen, das so oder so untergehen wird? Für ein Ideal?«
»Früher oder später ereilt der Tod jeden von uns, Madam Präsidentin. Ich möchte lieber für ein Ideal sterben als auf der Jagd nach irgendeinem Profit. Und ich möchte nicht mit dem Wissen leben, dass ich nicht alles gegeben habe, um diejenigen zu beschützen, die sich nicht selbst beschützen können. Ich weiß, Sie fragen mich das, weil Sie Gewissheit haben wollen, dass ich so wie Sie an die Sache glaube und dass ich auch bereit bin, für die zu sterben, die auf mich bauen.«
Diesmal konnte Iceni den Schock kaum noch überspielen, der sie erfasst hatte. Sie will für das Volk sterben? Denkt sie wirklich, ich bin so naiv?
Zugegeben, ich habe Togos Anraten zur Flucht sofort abgewiesen, aber doch nur, weil …
Warum zum Teufel habe ich das getan?
Um neben Artur Drakon nicht schwach zu wirken. Ja, das muss der Grund gewesen sein.
Und nun musste sie sich Gedanken darüber machen, wie sie im Vergleich zu Kommodor Marphissa dastand, die als eine der Wenigen in diesem Sternensystem eine Chance haben könnte, dem Konflikt zu entfliehen. Stattdessen beschloss sie, zu bleiben und in einen hoffnungslosen Kampf zu ziehen.
Für das Volk.
Marphissas Arbeiter wussten ebenfalls, welche Wege ihr zur Verfügung standen — jene Besatzungen, die auf Icenis Befehl zu Spezialisten ernannt worden waren, damit jeder von ihnen seine Arbeit voller Stolz erledigte. Diese Worte würden als Inspiration für die Besatzungen dabei helfen, den Kampf auch dann noch fortzuführen, wenn es längst keine Hoffnung mehr gab. Aber auch wenn Marphissas Einstellung in diesem Extremfall von Nutzen war, würde sie zukünftig Probleme mit sich bringen.
Falls es für sie alle überhaupt noch eine Zukunft geben sollte, was momentan sehr unwahrscheinlich war. »Also gut, Kommodor. Bringen Sie Ihre Flotte zum Gasriesen, schließen Sie sich mit der Flotte zusammen und verteidigen Sie dieses Sternensystem.« Damit hatte sie das Todesurteil für diese Kriegsschiffe und deren Besatzungen gesprochen und genau jenen Stich verspürt, den sie früh zu ignorieren gelernt hatte, wenn sie die Hinrichtung eines Individuums anordnete.
»Jawohl, Madam Präsidentin.« Die Kommodor hielt kurz inne. »Eine Frage noch, Madam Präsidentin. Die gesamte Flotte? Ich kann einen Jäger für den Fall zurücklassen, dass er noch benötigt wird, nachdem die übrige Flotte zerstört worden ist.«
Für den Fall, dass Iceni den Jäger brauchte, um von diesem Planeten und aus dem Sternensystem zu entkommen.
Willst du, dass ich »für das Volk« sterbe, oder nicht, du junge Närrin?, fragte Iceni stumm an Marphissas Bild gerichtet. Aber vor die letzte Wahl gestellt war ihr die Antwort längst klar. Sie würde bleiben. Und wenn sie alle Kriegsschiffe wegschickte und sich damit um ihre einzige Fluchtmöglichkeit brachte, würde jeder sehen, dass sie zu ihrem Wort stand. Vielleicht habe ich ja den Verstand verloren. Aber ich habe damit begonnen, hier etwas aufzubauen, verdammt! Vielleicht sind mir dabei Fehler unterlaufen, und vielleicht ist es ja auch dumm von mir, so was zu tun, aber es ist etwas, das ich geschaffen habe. Das werde ich jetzt weder den Enigmas noch Boyens überlassen. Und ich werde es auch nicht Drakon überlassen. Es ist meins. Und dazu gehören auch meine verrückte Kommodor und ihre Leute, die in eine Schlacht ziehen, um die Ideale tatsächlich zu verteidigen, die die Syndikatwelten immer gepredigt, gleichzeitig aber um jeden Preis auszurotten versucht hatten. Sie ziehen in eine Schlacht, um auf meinen Befehl hin und in meinem Namen zu sterben, weil sie glauben, dass ich diese Ideale ebenfalls akzeptiere. Bin ich zu stolz dafür, oder beschämt es mich? Meine Ausbildung und all meine Erfahrungen mit dem Syndikat sagen, dass nur ein Narr solche Gefühle empfinden würde.
Tja, dann bin ich wohl ein Narr.
Iceni schüttelte den Kopf. »Nein. Alle Kriegsschiffe werden Sie begleiten. General Drakon und ich halten hier die Stellung.«
»Wir wussten, Sie würden das sagen«, erwiderte Marphissa lächelnd. Sie hob die rechte Faust und legte sie auf die linke Brust, doch dabei verlieh sie dieser routinemäßigen Geste etwas fast Feierliches. »Für das Volk. Marphissa, Ende.«
Das hast du gewusst? Wie willst du das gewusst haben, wenn es mir selbst bis gerade eben nicht klar gewesen ist? Während ihres langen und unappetitlichen Aufstiegs zur CEO hatte fast jeder von Icenis Mentoren sie vor Untergebenen gewarnt, die sich in zu weitreichenden Annahmen ergingen oder die ein unerklärliches Verhalten erkennen ließen.
Aber es war geschehen. Die Entscheidung war gefallen. Und Marphissa hatte in der Vergangenheit hervorragende Dienste geleistet. Sie würde auch in den kommenden Stunden, die ihr und ihren Kriegsschiffen noch verblieben, für die Flotte von unschätzbarem Wert sein.
Iceni schaltete ihre Privatsphäre ab und drehte sich zu General Drakon um. »Ich habe Kommodor Marphissa angewiesen, mit allen Kriegsschiffen den Orbit zu verlassen und sich mit den Schweren Kreuzern nahe dem Gasriesen zusammenzuschließen. Die vereinte Flotte wird dann …« Iceni schluckte und wunderte sich, dass ihre Kehle mit einem Mal wie zugeschnürt war. »… sie wird sich dann dem Feind stellen und bis zu ihrer Vernichtung kämpfen«, führte sie den Satz zu Ende.
Langes Schweigen folgte, dann fragte Colonel Malin in respektvollem Ton: » Alle Kriegsschiffe, Madam Präsidentin?«
»Ja, das sagte ich doch gerade«, herrschte sie den Mann an. Was sie an der Frage so ärgerte, wusste sie selbst nicht so recht. Sie tat, als würde sie das leise Raunen im Kommandozentrum ebenso wenig bemerken wie die erstaunten und dankbaren Blicke der Arbeiter. Seid ihr zufrieden, weil ich euch nicht allein dem Tod überlasse? Kann man eure Loyalität so einfach kaufen?
Drakon kam auf sie zu. Er bewegte sich wieder auf diese selbstsichere Art, die Iceni so gut gefiel, auch wenn ihr das bislang gar nicht bewusst gewesen war. Sie mochte es, wie er zielstrebig und unbeirrt einen Fuß vor den anderen setzte. Er war wie ein unverrückbarer Fels in einer Welt, in der nichts länger gewiss war. »Gut«, sagte er, als würden sich Icenis Worte auf eine zuvor geäußerte Vereinbarung beziehen. »Dann sollten wir jetzt über unsere Pläne reden, wie wir diesen Planeten verteidigen können.«
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