»Aber warum will der schwarze Drache, dass die Orks die Festung verlassen?«, fragte die Waldläuferin. »Was gewinnt er damit?«
»Ich glaube, ich weiß es …« Rhonin stand auf, ging zum Rand des Gipfels und sah nach unten. Er stemmte sich gegen den Wind, damit er nicht in den Abgrund geweht wurde. Er konnte unter sich nichts erkennen, glaubte jedoch Lärm zu hören … vielleicht eine Wagenkolonne, die nach draußen zog? »Ich denke, dass er die rote Drachenkönigin nicht etwa befreien will – wie er mir erzählt hat –, sondern töten! Das war zu riskant, als sie sich im Inneren befand, aber draußen kann er auf sie herabstoßen und sie mit einem einzigen Schlag vernichten.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte die Elfe, als sie neben ihn trat.
»Es muss so sein.« Er sah auf. Selbst die feste Wolkendecke konnte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der Morgen rasch näher rückte. »Nekros wollte im Morgengrauen aufbrechen …«
»Ist er völlig verblödet?«, murmelte Falstad. »Würde es nicht mehr Sinn machen, wenn der verdammte Ork im Schutz der Nacht losgezogen wäre?«
Rhonin schüttelte den Kopf. »Deathwing kann bei Nacht recht gut sehen, vielleicht sogar besser als wir. Nekros erwähnte während seines Verhörs, dass er sogar auf Deathwing vorbereitet sei. Er schien der Ankunft des dunklen Herrschers sogar entgegenzufiebern .«
»Aber das ergibt doch gar keinen Sinn!«, sagte die Waldläuferin. »Wie sollte ein einzelner Ork ihn besiegen?«
»Wie konnte er die Drachenkönigin unter Kontrolle halten, und woher nahm er eine Kreatur wie den Golem?« Die Frage verstörte ihn mehr als er zu erkennen gab. Der Gegenstand, den der Ork bei sich trug, hatte gewiss erstaunliche Fähigkeiten, aber war er so mächtig?
Falstad befahl mit einem Wink zu schweigen und zeigte dann nach Nordwesten, weit hinter die Berge.
Ein riesiger dunkler Schatten brach einen Moment später durch die hohen Wolken und verschwand wieder, als er tiefer sank.
»Es ist Deathwing …«, flüsterte der Greifenreiter.
Rhonin nickte. Die Zeit der Spekulationen war vorbei. Dass Deathwing gekommen war, konnte nur eines bedeuten. »Was immer auch geschehen mag, es geschieht jetzt .«
Die lange Ork-Karawane zog los, als das erste Licht der Morgendämmerung Grim Batol erreichte. Die Wagen wurden am Anfang des Zuges und an seinem Ende von bewaffneten Kriegern begleitet, die frisch geschliffene Äxte, Schwerter und Lanzen trugen. Eskorten ritten neben den Peon-Fahrern, vor allem neben den Wagen mit den wertvollen Dracheneiern. Jeder Ork sah aus, als müsse er jeden Moment dem Feind entgegenstürmen, denn selbst der niedrigste Krieger kannte die Gerüchte über die bevorstehende Invasion.
Nekros Skullcrusher saß auf einem der wenigen Pferde, die den Orks zur Verfügung standen, und beobachtete die Abreise voller Ungeduld. Er hatte die Drachenreiter und ihre Tiere nach Dun Algaz vorausgeschickt, damit selbst im Fall seines Scheiterns noch ein paar Drachen der Horde zur Verfügung stehen würden. Er hatte es nicht gewagt die Geflügelten zum Transport der Eier zu benutzen, denn ein früherer, fehlgeschlagener Versuch hatte den Kommandanten davon überzeugt, dass es sinnlos und zu riskant war.
Es wäre unmöglich gewesen, einen Wagen zu konstruieren, der einen Drachen transportieren konnte, und so war Nekros die Aufgabe zugefallen, die beiden gefährlichsten Wesen unter Kontrolle zu halten. Beide, Alexstrasza und – überraschend – Tyran folgten am Ende der Kolonne, sich stets der Macht bewusst, die das Dämonensiegel auf sie ausübte. Für den kranken Gefährten der Drachenkönigin musste die Lage sehr schwierig sein, und Nekros bezweifelte, dass er die Reise überleben würde. Trotzdem wusste der Ork, dass ihnen keine andere Wahl geblieben war.
Die beiden großen Leviathane boten immer noch einen beeindruckenden Anblick. Das Weibchen noch mehr als das Männchen, da es bei besserer Gesundheit war. Nekros bemerkte, wie Alexstrasza ihn anstarrte und der Hass in ihren Augen leuchtete. Das interessierte den Ork nicht. Sie würde ihm gehorchen, so lange er das Artefakt trug, mit dem er jeden Drachen zu beherrschen vermochte.
Der Gedanke an Drachen ließ ihn zum Himmel blicken. In den wolkenverhangenen Lüften fand ein Leviathan viele Orte, an denen er sich verbergen konnte, aber irgendwann musste etwas geschehen. Selbst wenn die Streitkräfte der Allianz noch weit weg waren, Deathwing würde kommen. Nekros verließ sich darauf.
Die Menschen würden erfahren, wie dumm es war, sich auf den Sieg des dunklen Herrschers zu verlassen. Was einen Drachen beherrschte, konnte sicherlich auch weitere beherrschen. Mit der Dämonenseele würde der Ork-Kommandant die Kontrolle über die grausamste aller Bestien erlangen. Er, Nekros, würde Deathwings Herr werden … aber nur, wenn das verdammte Reptil in absehbarer Zeit auftauchte.
»Wo bist du, verteufelte Kreatur?«, murmelte er. »Wo?«
Die letzte Reihe von Kriegern verließ den Höhleneingang. Nekros sah ihnen zu, als sie vorbei schritten. Sie waren stolz und wild und erinnerten ihn an die Tage, als die Horde keine Niederlage gekannt hatte und keinen Gegner, der nicht hatte besiegt werden können. Sobald Deathwing unter seinem Willen stand, würde Nekros seinem Volk diesen Ruhm zurückbringen. Die Horde würde erneut aufsteigen, selbst die Clans, die aufgegeben hatten. Die Orks würden über die Territorien der Allianz herfallen und die Menschen und alle anderen erschlagen.
Und vielleicht würde es dann auch einen neuen Ober-Häuptling der Horde geben. Zum ersten Mal wagte es Nekros, sich selbst in dieser Rolle vorzustellen; im Geiste sah er Zuluhed, wie er sich vor ihm verneigte. Ja, wer immer seinem Volk den Sieg schenkte, der würde mit Bestimmtheit zum neuen Herrscher gekrönt werden.
Kriegshäuptling Nekros Skullcrusher …
Er trieb sein Pferd voran und schloss sich der Kolonne an. Er würde Misstrauen säen, wenn er nicht mit ihnen ritt. Außerdem war es nicht wichtig, wo er sich aufhielt. Die Dämonenseele verlieh ihm auch über Entfernungen hinweg die Kontrolle. Kein Drache konnte ohne seine Zustimmung die Freiheit erlangen – und der alte Ork hatte nicht vor, diese Zustimmung zu geben.
Wo blieb die verdammte schwarze Bestie?
Wie zur Antwort hob ein entsetzliches Brüllen an. Es kam jedoch nicht aus dem Himmel, wie Nekros anfangs glaubte, sondern aus dem Boden, auf dem sich die Orks bewegten. Das führte unter den Kriegern zu Verwirrung, während sie sich umdrehten und nach einem Feind Ausschau hielten.
Einen Atemzug später spie die Erde Zwerge aus.
Sie schienen überall zu sein. Es waren mehr Zwerge, als Nekros in ganz Khaz Modan vermutet hätte. Sie brachen aus dem Untergrund hervor, axt- und schwertschwingend und griffen die Kolonne von allen Seiten zugleich an.
Die Orks überwanden ihre ursprüngliche Verblüffung schnell. Sie stießen ihren eigenen Kriegsschrei aus und warfen sich den Angreifern entgegen. Die Wächter blieben bei den Wagen, wappneten sich jedoch, und selbst die Peons, die in allen Dingen ungeschickt waren, zogen Keulen hervor. Für einen Ork erforderte es keine großartige Ausbildung, etwas mit einem Stück Holz zu erschlagen.
Nekros trat nach einem Zwerg, der ihn herabziehen wollte. Einer der Untergebenen des Kommandanten griff sofort ein und begann einen heftigen Kampf mit dem Angreifer. Nekros brachte sein Pferd näher an die Wagen heran und benötigte einen Moment, um sich der Situation anzupassen. Anstelle einer Invasion wurde er von Abschaum angegriffen, denn die Zwerge sahen aus wie die zerlumpten Gestalten, die schon immer in den Stollen der Berge gelebt hatten. Wenn man ihre Anzahl bedachte, hatten die Trolle keine gute Arbeit geleistet.
Aber wo war Deathwing? Nekros hatte sich auf den Drachen vorbereitet. Es musste einen Drachen geben!
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