»Ist er wieder unter den Lebenden?«, grollte Lord Senturus' Stimme. »Wollen sehen, wie lange das so bleibt …«
Die schlanke Elfe kam sofort auf die Beine und stellte sich dem Paladin in den Weg. »Er hat gerade erst die Augen geöffnet! Gebt ihm Zeit, zu sich zu kommen und wenigstens etwas zu essen, bevor Ihr ihn befragt!«
»Ich werde ihm seine Grundrechte nicht verweigern, Mylady, aber er wird die Fragen während des Essens beantworten und nicht erst danach.«
Rhonin hatte sich gerade weit genug aufgerichtet und auf die Ellbogen gestützt, um Duncans drohendes Gesicht erkennen zu können. Ihm war klar, dass der Ritter der Silbernen Hand ihn für einen Verräter, vielleicht sogar Mörder halten musste. Der geschwächte Magier erinnerte sich an den unglücklichen Wachmann, der zu Tode gestürzt war, und es war möglich, dass es nicht bei diesem einen Opfer geblieben war. Zweifellos hatte irgendjemand Rhonins Anwesenheit auf der Mauer gemeldet und zusammen mit den Vorurteilen, die der heilige Orden ohnehin gegen ihn hegte, hatte dies genügt, die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Er wollte nicht gegen sie kämpfen. In seiner Verfassung würden ihm bestenfalls ein, zwei einfache Formeln über die Zunge kommen … Dennoch, wenn sie danach trachteten, ihn für das zu bestrafen, was bei dem Wachturm geschehen war, würde er sich verteidigen müssen .
»Ich werde antworten, so gut ich kann«, erwiderte der Rhonin, Vereesas Hilfe ablehnend, als er sich mühsam hochrappelte. »Aber, vollkommen richtig, nur mit etwas zu essen und zu trinken.«
Die normalerweise fad schmeckenden Vorräte der Ritter mundeten Rhonin in seinem Zustand gleich vom ersten Bissen an wie Delikatessen. Selbst das schale Wasser aus einer der Trinkflaschen schmeckte süßer als Wein. Rhonin erkannte plötzlich, dass sich sein Körper anfühlte, als habe er mindestens eine Woche gehungert. Er aß mit Genuss, mit Hingabe und wenig Rücksicht auf gute Manieren. Einige der Ritter beobachteten ihn belustigt, andere, vor allem Duncan, voller Abscheu.
Gerade als Hunger und Durst nachzulassen begannen, fing die Befragung an. Lord Senturus setzte sich mit Augen, in denen bereits das Urteil über den Zauberer feststand, vor ihn hin und grollte: »Die Zeit Eures Geständnisses ist gekommen, Rhonin Redhair! Ihr habt Euch den Bauch voll geschlagen, jetzt erleichtert Eure Seele von der Bürde der Sünde. Berichtet uns von Eurer Missetat oben auf dem Burgfried …«
Vereesa stand neben dem sich erholenden Magier, ihre Hand ruhte auf dem Griff ihres Schwertes. Ihre Rolle als seine Verteidigerin vor diesem improvisierten Gerichtshof war klar, und sie fühlte sich dazu nicht allein, wie Rhonin denken mochte, aufgrund ihres Eides verpflichtet. Nach ihrer beider Erfahrung mit dem Drachen vermochte sie ihn sicherlich besser einzuschätzen als diese Ritter-Trampel.
»Ich werde Euch erzählen, was ich weiß – was aber auch heißt, dass es nicht sonderlich viel ist, Mylord. Ich stand oben auf der Mauer beim Wachturm, aber ich trage keine Schuld an der Zerstörung. Ich hörte eine Explosion, die Mauer wankte und einer Eurer Soldaten hatte das Pech, über den Rand zu stürzen, ein Ereignis, für das ich mein ehrliches Beileid aussprechen möchte …«
Duncan hatte noch nicht seinen Helm aufgesetzt und fuhr sich nun mit der Hand durch das ergraute und licht gewordene Haar. Er sah aus, als ringe er in beachtlichem Kampfe um die Kontrolle über seine Gefühle. »In Eurer Geschichte klaffen bereits jetzt Risse, so tief wie der Abgrund Eures Herzens, Zauberer, und Ihr habt kaum erst begonnen zu reden! Es gibt Zeugen, welche trotz Eurer Bemühungen noch am Leben sind, und die Euch Magie wirken sahen, kurz bevor die Verwüstung einsetze. Eure Lügen fällen das Urteil über Euch!«
»Oh nein, Ihr verurteilt mich, so wie Ihr alle meiner Art für unsere bloße Existenz verurteilt«, gab Rhonin ruhig zurück. Er nahm einen weiteren Bissen des harten Brotes und fügte dann hinzu: »Ja, Mylord, ich wirkte einen Zauber, aber nur einen, der die Zwiesprache über weite Entfernungen ermöglicht. Ich wollte einen meiner Ältesten um Rat fragen, wie ich meine Mission, die von den höchsten Autoritäten der Allianz abgesegnet wurde, fortfahren soll … Die ehrenwerte Waldläuferin hier wird Euch dies sicher bestätigen.«
Als sich die Blicke des Ritters auf Vereesa richteten, sagte sie: »Seine Worte entsprechen der Wahrheit, Duncan. Ich sehe auch keinen Grund, weshalb er einen solchen Schaden hätte anrichten sollen …« Sie hob eine Hand, als der ältere Krieger zum Widerspruch ansetzte, zweifellos, um erneut darzulegen, dass sich alle Zauberer bereits in dem Augenblick, da sie ihre Künste aufnahmen, in verdammte Seelen verwandelten. »… und ich werde gegen jeden Mann im Zweikampf antreten, Euch eingeschlossen, wenn sich dies als notwendig erweisen sollte, um seine Rechte und seine Freiheit wiederherzustellen.« Lord Senturus wirkte verstimmt ob des Gedankens, der Elfe im Kampf begegnen zu müssen. Er blickte Rhonin an und nickte schließlich langsam. »Nun denn. Ihr habt eine standhafte Verteidigerin, Zauberer, und auf ihr Wort und Gewissen will ich annehmen, dass Ihr nicht verantwortlich seid für das, was geschah.« Doch kaum hatte er die Worte gesprochen, stieß der Paladin einen Finger in Richtung des Magiers. »Aber ich möchte mehr über Eure Eindrücke in jenem Moment des Anschlags hören und, falls Ihr es aus Euren Erinnerungen herauspressen könnt, wie es dazu kam, dass Ihr hier in unsere Mitte fallen konntet, wie ein Blatt von einem hohen Baum …«
Rhonin seufzte, sich dessen bewusst, dass er um diese Geschichte nicht herumkommen würde. »Wie Ihr wünscht. Ich versuche, Euch alles zu berichten, was ich weiß.« Es war nicht viel mehr, als das, was er schon preisgegeben hatte. Einmal mehr erzählte ihnen der erschöpfte Magier vom Erklimmen der Mauer, von seinem Entschluss, seinen Mentor um Rat zu befragen – und der plötzlichen Explosion, die das Gemäuer erschüttert hatte.
»Ihr seid Euch dessen sicher, was Ihr gehört zu haben meint?«, fragte ihn Duncan Senturus umgehend.
»Ja. Auch wenn ich es nicht über jeden Zweifel erhaben beweisen kann, hörte es sich an wie eine gezündete Sprengladung.«
Die Explosion bedeutete nicht, dass die Goblins dafür verantwortlich waren, andererseits hatten Jahre des Krieges solche Schlussfolgerungen selbst im Kopf des Zauberers verwurzelt. Niemand hatte Goblins in diesem Teil von Lordaeron gemeldet, doch Vereesa hatte einen Vorschlag. »Duncan, vielleicht brachte der Drache, der uns zuvor verfolgt hat, ein oder zwei Goblins mit sich. Sie sind klein, geschickt und sicherlich dazu imstande, sich für wenigstens ein, zwei Tage zu verstecken. Das würde manches erklären.«
»Das würde es in der Tat«, pflichtete er wiederstrebend bei. »Und wenn dem tatsächlich so ist, müssen wir doppelt wachsam sein. Goblins kennen keinen anderen Zeitvertreib, als Unruhestifterei und Zerstörung. Sie werden mit Sicherheit erneut zuschlagen.«
Rhonin fuhr mit seinem Bericht fort und erzählte, wie er als Nächstes in die zweifelhafte Sicherheit des Turmes geflohen war, nur um diesen um sich herum zusammenstürzen zu sehen. An dieser Stelle hielt er inne, überzeugt, dass Senturus seine nächsten Worte im besten Fall als fragwürdig bewerten würde.
»Und dann packte mich … irgendetwas … Mylord. Ich weiß nicht, was es war, aber es hob mich auf, als sei ich ein Spielzeug, und trug mich fort von der Vernichtung. Unglücklicherweise ließ mir der eiserne Griff kaum Luft zum Atmen, und als ich erneut meine Augen aufschlug …«, der Zauberer blickte zu Vereesa, »… sah ich ihr Gesicht über mir.« Duncan wartete auf mehr, aber als sich abzeichnete, dass dieses Warten vergeblich war, schlug er mit einer Hand auf sein gepanzertes Knie und brüllte: »Und das ist alles? Das soll alles sein, was Ihr wisst?«
Читать дальше