»Herr?«, unterbrach Khadgar. »Wir haben nicht viel Zeit?«
»Zeit«, sagte Medivh, dann nickte er, und die Kraft kehrte in sein Antlitz zurück. »Nein, wir haben nicht viel Zeit. Komm. Trödle nicht.« Und mit diesen Worten war der ältere Mann bereits wieder auf dem Weg und nahm zwei Stufen auf einmal.
Khadgar wurde klar, dass der von Phantomen heimgesuchte Turm und die chaotische Bibliothek nicht die einzigen Gründe waren, dass Leute Medivh den Dienst quittierten, und er hastete ihm hinterher.
Der alte Kastellan wartete im Observatorium auf sie.
»Moroes«, donnerte Medivh, als er in die Kammer stürmte. »Die goldene Pfeife, bitte.«
»Jau«, sagte der Diener und reichte ihm einen dünnen Zylinder. Zwergen-Runen waren in die Seiten der Röhre geritzt und reflektierten das kalte Fackellicht des Raumes. »Nahm mir bereits die Freiheit, Herr. Sie sind hier.«
»Sie?«, fragte Khadgar. Da hörte er ein Rauschen riesiger Flügel über sich. Medivh trat auf den Wehrgang, und Khadgar blickte hinauf.
Große Vögel stiegen vom Himmel herab, und ihre Flügel leuchteten im Mondlicht. Nein, keine Vögel, erkannte Khadgar – Greife. Sie hatten die Körper großer Raubkatzen, aber ihre Köpfe und Vorderklauen glichen denen von Seeadlern, und ihre Schwingen waren golden.
Medivh hielt dem Jungen Zaumzeug hin. »Schirr deinen an, und wir können losfliegen.«
Khadgar betrachtet die großen Bestien. Der ihm am nächsten stehende Greif stieß ein lautes Kreischen aus und scharrte mit seinen klauenbewehrten Vorderbeinen über die Steinplatten.
»Ich habe noch nie …«, begann der junge Mann. »Ich weiß nicht …«
Medivh runzelte verärgert die Stirn. »Bringen die euch bei den Kirin Tor denn gar nichts bei? Ich hab keine Zeit für so was.« Er hob einen Finger, berührte Khadgars Stirn und murmelte ein paar Worte.
Khadgar stolperte zurück und schrie vor Überraschung auf. Die Berührung des Magus fühlte sich an, als triebe ihm jemand ein heißglühendes Schwert ins Gehirn.
Medivh sagte: »Jetzt weißt du es. Leg deinem Greif das Zaumzeug an. Los!«
Khadgar berührte seine Stirn und stieß ein überraschtes Keuchen aus. Ja. Er wusste jetzt, wie man einen Greifen richtig anschirrte, und auch wie man einen ritt, sowohl mit Sattel als auch ohne, im Stil der Zwerge. Er wusste, wie man wendete, wie man ein Schweben erzwang, und vor allem, wie man sich auf eine plötzliche Landung vorbereitete.
Khadgar legte seinem Greifen das Geschirr an, während sein Schädel leicht pochte, als müsse das neue Wissen das Wissen, das sich bereits in seinem engen Kopf befand, zur Seite drängen, um sich Platz zu schaffen.
»Bereit? Folge mir!«, rief Medivh und wartete nicht auf eine Antwort.
Das Paar stieg in die Luft. Die großen Tiere strengten sich an und schlugen heftig mit den Flügeln, um mit ihrer schweren Last aufsteigen zu können. Die Ungetüme konnten Zwerge in Rüstungen tragen, aber Menschen überstiegen fast ihre Kräfte.
Khadgar warf sich mit seinem Greifen gekonnt in eine Kurve und folgte Medivh, als der Magus sich zu den dunklen Baumkronen hinabschwang. Der Schmerz in seinem Kopf breitete sich von dem Punkt ans, an dem Medivh ihn berührt hatte, und nun fühlte sich seine Stirn schwer an, und seine Gedanken kämpften sich durch einen Nebel. Trotzdem konzentrierte er sich und folgte den Bewegungen des Meistermagiers, als benutze er schon sein ganzes Leben einen Greifen.
Der jüngere Magier versuchte, zu Medivh aufzuschließen.
Er wollte ihn fragen, wohin sie flogen, was ihr Ziel sei, aber er konnte ihn nicht einholen. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte der rauschende Wind auch die lautesten Schreie erstickt. Vor ihnen erhoben sich die Berge. Sie flogen nach Osten.
Khadgar konnte nicht sagen, wie lange sie in der Luft waren. Er döste mehrmals unruhig auf dem Greifenrücken ein, doch seine Hände hielten die Zügel fest gepackt, und der Greif folgte unbeirrbar seiner Bruder-Kreatur. Erst als Medivh sein Tier plötzlich nach rechts lenkte, schüttelte sich Khadgar aus seinem Schlaf (falls es Schlaf war) und folgte dem Meistermagier, der jetzt Kurs nach Süden nahm. Khadgars Kopfschmerzen, höchstwahrscheinlich das Ergebnis des Zaubers, hatten sich fast vollständig aufgelöst, und nur ein vages, dumpfes Pochen war geblieben.
Sie hatten die Berge hinter sich gelassen, und Khadgar erkannte, dass sie jetzt über offenes Land flogen. Unter ihnen lag das Mondlicht und spiegelte sich in Myriaden von Wasserlöchern. Ein großes Moor oder ein Sumpf , dachte Khadgar. Es musste jetzt früher Morgen sein. Der Horizont zu ihrer Rechten begann im Versprechen eines neuen Tages zu glühen.
Medivh ging tief und hob beide Hände über den Kopf. Er wob einen Zauber auf dem Greifenrücken, erkannte Khadgar, und obwohl dessen Geist ihm versicherte, dass auch er wusste, wie man dies tat, während man das große Tier mit den Knien lenkte, wurde ihm doch bang ums Herz bei dem Gedanken, selbst ein solches Manöver auszuführen.
Die Kreaturen ließen sich weiter fallen, und Medivh wurde plötzlich in eine Kugel aus Licht gebadet, die die Konturen seines Greifen als riesigen Schatten auf das Land unter ihnen warf. Dort machte der junge Magier ein Lager aus, das auf einer niedrigen Anhöhe lag, die aus dem Sumpf herausragte.
Sie flogen über das Lager hinweg, und Khadgar hörte unter sich Schreie und das Klappern von Rüstungen und Waffen, die hastig ergriffen wurden. Was tat Medivh?
Sie entfernten sich zunächst vom Lager. Dann aber flog Medivh eine weite Kurve, der Khadgar Bewegung um Bewegung folgte. Sie glitten wieder über das Lager, und es war jetzt heller – die Feuer, die zuvor fast erloschen gewesen waren, hatten jetzt frisches Holz als Nahrung erhalten und loderten hell in der Dämmerung. Khadgar sah, dass es eine große Patrouille war, vielleicht sogar eine Kompanie. Das Zelt des Kommandanten war reich verziert, und Khadgar erkannte das Banner von Azeroth, das darüber flatterte.
Verbündete also, denn es hieß, Medivh pflege eine sehr enge Beziehung zu König Llane von Azeroth und Lothar, dem Champion des Königreiches. Khadgar erwartete, dass Medivh landen würde, doch stattdessen grub der Magus seine Fersen in die Flanken seines Reittiers und zog den Kopf des Greifen in die Höhe. Die riesigen Schwingen des Tieres schlugen die dunkle Luft, und sie stiegen wieder auf. Nun rauschten sie nach Norden. Khadgar hatte keine andere Wahl als zu folgen, während Medivhs Lichtkugel schwächer wurde und der Meistermagier wieder die Zügel aufnahm.
Sie flogen wieder über das Marschland, und Khadgar sah ein dünnes Band unter sich, zu gerade für einen Fluss, zu breit für einen Bewässerungsgraben. Eine Straße also, die sich durch den Sumpf zog und die Inseln trockenen Landes verband, die sich aus dem Moor erhoben.
Dann näherten sie sich einer solchen Insel, auf der Khadgar ein weiteres Lager ausmachte, das auf einer von Gehölz umschlossenen Lichtung lag. Auch hier gab es Flammen, doch es waren nicht die hellen, kontrollierten Feuer der Soldaten. Diese Feuer hier waren über die gesamte Lichtung verteilt, und als sie näher herankamen, erkannte Khadgar, dass es sich um brennende Wagen handelte. Ihr Inhalt lag zusammen mit dunklen, bewegungslosen menschlichen Gestalten über den sandigen Boden verstreut.
Wie zuvor flog nun Medivh über das Lager hinweg, dann schwang er sich hoch in die Lüfte, machte eine Wende und überflog den Ort noch einmal. Khadgar folgte ihm und lehnte sich über die Seite seines Reittiers, um einen besseren Blick zu erhaschen. Es schien eine Karawane zu sein, die man geplündert und in Brand gesteckt hatte. Aber auch die Waren lagen über den Boden verstreut. Würden Banditen nicht die Beute und die Wagen an sich bringen? Gab es Überlebende?
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