»Keine Ahnung«, antwortete Cho’gall. »Sie sind darüber sehr verschwiegen. Ich weiß, dass es um etwas geht, das der Dragonmaw-Clan in den Bergen gefunden hat. Der halbe Clan ist jetzt dort. Aber ich weiß nicht, was sie dort tun.«
»Das ist eigentlich auch gleichgültig.« Gul’dan furchte die Stirn und rieb sich geistesabwesend über einen seiner Hauer, während er nachdachte. »Was immer es auch ist, so sorgt es jedenfalls dafür, dass Doomhammer abgelenkt ist. Und das ist sehr zu unserem Vorteil. Es wäre nicht gut, wenn er unsere Pläne aufdeckte, bevor wir sie umgesetzt haben.« Er grinste. »Und wenn das erst einmal geschehen ist – ist es zu spät für ihn.«
»Wirst du ihn als Kriegshäuptling absetzen?«, fragte Cho’galls anderer Kopf, während sie zu ihrem Quartier zurückgingen.
»Ich? Nein.« Gul’dan lachte. »Ich habe keine Lust, mit Axt oder Hammer durch die Straßen zu ziehen, um meine Feinde zu erschlagen. Ich habe andere Vorstellungen: Ich treffe sie in ihrem Geist – und erschlage sie aus der Ferne. Hunderte oder Tausende auf einen Streich!« Er lächelte bei dem Gedanken. »Schon bald wird alles, was mir versprochen wurde, auch mir gehören. Und dann ist Doomhammer nichts mehr gegen mich. Selbst die Macht der Horde wird gegen mich verblassen. Ich werde meine Hand ausstrecken und diese Welt säubern… um sie dann nach meinen Idealen neu zu errichten!« Er lachte abermals, und das Gelächter hallte von den eingestürzten Wänden und Gebäuden wider, als würde die sterbende Stadt darin einstimmen.
Khadgar beobachtete die Ereignisse von der Seite des Thronsaals aus. Er war auf Lothars Wunsch anwesend. Sowohl als Zeuge der Ereignisse als auch, wie Khadgar vermutete, als vertrautes Gesicht in diesem merkwürdigen Land.
Khadgars Neugierde hatte dazu beigetragen, die Einladung anzunehmen. Aber er vermied es wohlweislich, sich diesen Männern als Gleichgestellter zu präsentieren. Trotz der Macht, die er verkörperte.
Jeder von ihnen war ein König und in der Lage, ihn mit einem Fingerschnippen töten zu lassen. Außerdem hatte Khadgar viel zu lange im Mittelpunkt der Ereignisse gestanden. Dabei war er seit frühester Jugend viel mehr daran gewöhnt zu beobachten, abzuwarten, zu analysieren und erst nach reiflichem Überlegen zu reagieren.
Es war schön, zu diesen alten Gewohnheiten zurückkehren zu können. Selbst, wenn es nur für kurze Zeit sein würde.
Er erkannte viele der anwesenden Männer, zumindest der Beschreibung nach. Der große, brummige Mann mit den markanten Gesichtszügen, dem dichten schwarzen Bart und der schwarz-grauen Rüstung war Genn Graymane. Er herrschte über die südlichen Ländereien von Gilneas. Khadgar hatte gehört, dass er viel schlauer war als es den Anschein erweckte.
Der große hagere Mann mit der verwitterten Haut und der grünen Marineuniform war natürlich Admiral Daelin Proudmoore. Er herrschte über Kul Tiras. Aber es war sein Amt als Kommandeur über die größte und effektivste Marine der Welt, weshalb ihn selbst Terenas wie einen Ebenbürtigen behandelte.
Der ruhige, kultiviert wirkende Mann mit dem ergrauenden braunen Haar und den dunklen Augen war Lord Aiden Perenolde, der Herrscher über Alterac. Er blickte gerade zu Thoras Trollbane, dem König des Nachbarreichs Stromgarde.
Aber der große, raue Trollbane ignorierte ihn. Das Leder und die Felle schirmten ihn von Perenoldes Wut offensichtlich genauso ab wie sie ihn vor dem unberechenbaren Wetter seiner Heimatberge schützten.
Seine rauen Gesichtszüge waren einem kleinen, kräftigen Mann mit einem schneeweißen Bart und freundlichem Gesicht zugewandt. Er musste nirgends auf dem Kontinent extra vorgestellt werden, selbst wenn er seine Feiertagsgewänder und den Stab einmal nicht trug: Alonsus Faol war der Erzbischof der Kirche des Lichts und wurde allerorten von den Menschen geachtet.
Khadgar erkannte, warum das so war. Er hatte Faol niemals persönlich getroffen, aber selbst wenn man ihn nur beobachtete, verbreitete eine Aura von Frieden und Weisheit ihren Einfluss.
Ein violettes Flackern aus dem Augenwinkel lenkte Khadgar ab. Er drehte sich um – und kämpfte dagegen an, nicht dümmlich dreinzuschauen.
In den Thronsaal trat eine Legende. Groß und hager, mit langem, grau durchwirktem braunem Bart und dazu passenden Augenbrauen, die Glatze von einer goldumrandeten Kappe bedeckt, erschien nun Erzmagier Antonidas.
In all seinen Jahren in Dalaran hatte Khadgar den Anführer der Kirin Tor nur zweimal zu Gesicht bekommen. Einmal im Vorbeigehen… und dann, als Khadgar darüber informiert wurde, dass er zu Medivh gehen sollte.
Den Meistermagier, der mit jedem Zoll wie ein echter Monarch wirkte, hier neben den anderen Regenten zu sehen, erfüllte Khadgar mit blanker Ehrfurcht und dem überraschenden Gefühl von Heimweh. Er vermisste Dalaran und fragte sich, ob er die Stadt der Zauberer wohl jemals wieder betreten würde.
Vielleicht, wenn der Krieg vorbei war. Falls er ihn denn überlebte.
Antonidas war der letzte Ankömmling. Als er die Fläche vor der Empore erreichte, erhob sich Terenas und klatschte in die Hände. Das Geräusch hallte nach, und die Gespräche erstarben. Alle Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf den königlichen Gastgeber.
»Danke, dass ihr alle hier erschienen seid«, begann Terenas. Seine Stimme durchdrang den Raum. »Ich weiß, dass die Einladung überraschend kam, aber ich habe wichtige Dinge mit euch zu besprechen, die keinen Aufschub dulden.« Er machte eine Kunstpause, dann wandte er sich an den Mann, der auf der Empore neben ihm stand. »Ich präsentiere euch Anduin Lothar, Held von Stormwind. Er ist als Überbringer einer Nachricht gekommen – und vielleicht sogar als unser aller Retter. Ich glaube, am besten erzählt er euch selbst, was er erlebt hat und was uns vielleicht bald schon bedroht.«
Lothar trat vor. Terenas hatte ihn mit frischer Kleidung versorgen wollen, aber Lothar hatte darauf bestanden, seine Rüstung anzubehalten, anstatt sie gegen tadellose Gewänder aus Lordaeron einzutauschen. Sein Schwert ragte immer noch über seine Schulter, was, wie Khadgar vermutete, viele der Monarchen ebenfalls bemerkt hatten. Aber es waren das Gesicht des Helden und die Worte, die er sprach, wodurch er von Beginn an ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.
»Eure Majestäten«, begann Lothar. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr zu diesem Treffen gekommen seid und mir zuhört. Ich bin kein Dichter und auch kein Diplomat, sondern ein Krieger. Deshalb werde ich meine Worte knapp und direkt wählen.« Er atmete tief durch. »Meine Heimat Stormwind ist nicht mehr.« Einige der Könige schnappten nach Luft. Andere wurden bleich. »Sie fiel einer Horde von Kreaturen zum Opfer, die sich Orcs nennen«, erklärte Lothar. »Es sind schreckliche Feinde. So groß wie ein Mensch, aber sehr viel stärker. Mit bestialischen Gesichtszügen, grüner Haut und roten Augen. Diese Horde erschien vor Kurzem und begann damit, unsere Patrouillen zu attackieren«, fuhr Lothar fort. »Aber das waren nur ihre Voraustrupps. Als uns ihre volle Armee angriff, waren wir völlig überrascht. Es sind Zehntausende von Kriegern. Genug, um das Land wie ein böser Schatten zu überziehen. Und sie sind erbarmungslose Gegner. Stark, grausam und gnadenlos.« Er seufzte. »Wir bekämpften sie, so gut wir konnten. Aber es reichte nicht aus. Sie belagerten unsere Stadt, nachdem sie das Land verwüstet hatten. Und obwohl wir sie eine Zeit lang zurückhalten konnten, durchbrachen sie schließlich doch unsere Verteidigungslinien. Sie haben König Liane getötet…«
Khadgar bemerkte, dass Lothar verschwieg, wie der König gestorben war. Vielleicht hätte das Erwähnen der Halb-Orc-Mörderin, der sie als Kundschafterin vertraut hatten, den Bericht abgeschwächt. Khadgar hatte dafür vollstes Verständnis. Er wollte die Sache auch nicht weiter vertiefen, zumal er Garona ebenfalls für eine Freundin gehalten hatte und immer noch ob ihres Verrats bestürzt war.
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