Immer mehr Probleme tauchten auf. Jarod kam kaum dazu, Luft zu holen. Sogar die Irdenen und die anderen Verbündeten kamen zu ihm, wenn sie Hilfe benötigten. Jarod, der niemanden fand, der größere Autorität als er selbst besaß, beantwortete ihre Fragen und hoffte, dass er niemanden in den Tod schickte.
Der Captain rechnete ständig damit, dass die Dämonenhorde seine Leute überrennen würde, aber irgendwie hielten die Nachtelfen ihnen stand. Die Beharrlichkeit der Mondgarde und der Bogenschützen zeigte schließlich Erfolg, denn die Verdammniswachen flohen, obwohl viele Krüge noch nicht geleert worden waren. Die Verluste der Armee waren hoch, aber als sich der Kampf etwas beruhigte, begann Jarod zu ahnen, dass seine Entscheidungen noch mehr Tote verhindert hatten.
Schließlich fand der Captain endlich die Zeit, zu Rhonin zurückzukehren. Ein halbes Dutzend Soldaten schloss sich ihm an. Er hatte sie nicht darum gebeten, aber mehrere Offiziere hatten die Soldaten abgestellt, damit Jarod sie über seine aktuellen Befehle auf dem Laufenden halten konnte. Der ehemalige Wachoffizier fühlte sich in ihrer Gegenwart unwohl, denn sie behandelten ihn, als wäre er ebenso wichtig wie Stareye oder Ravencrest. Jarod Shadowsong war kein Adliger und auch kein Kommandant. Die Armee hatte sich zwar von ihrem Rückschlag erholt, doch das lag an den Soldaten, nicht an ihm.
Er war erleichtert, als er den Zauberer unverletzt vorfand. Allerdings reagierte er immer noch nicht, schien weder etwas zu sehen, noch zu hören.
Jarod versuchte vergeblich, ihm etwas Wasser einzuflößen. Frustriert wandte er sich an einen der Soldaten. »Bring einen Zauberer der Mondgarde zu mir. Beeil dich!«
Doch der Soldat kam nicht mit einem Magier zurück, sondern mit zwei Personen, die die Rüstung der Schwesternschaft trugen. Schlimmer noch, die ältere der beiden Priesterinnen war Maiev.
»Als man mir sagte, der befehlshabende Offizier suche nach einem Zauberer, hätte ich nicht gedacht, dass du gemeint sein könntest, kleiner Bruder.«
Captain Shadowsong hatte keine Zeit für die Sticheleien seiner Schwester. »Erspar’ mir deine Ironie, Maiev. Dieser Zauberer steht unter einem Fluch, den einer der obersten Dämonen ausgesprochen hat. Kann Elune ihn davon befreien?«
Sie sah ihn merkwürdig an, dann ging sie neben Rhonin in die Knie. »Ich habe nie jemanden von seiner Art getroffen, aber ich nehme an, dass er uns ähnlich genug ist, um vor Mutter Mond Beachtung zu finden. Jia, hilf mir. Mal sehen, was wir tun können.«
Die zweite Priesterin trat an Rhonins andere Seite. Die beiden hoben ihre Hände und drehten die Handflächen nach oben. Dann legten sie ihre Fingerspitzen aneinander. Ein silbernes Licht floss aus ihren Fingern die Arme hinauf und legte sich um ihre Körper.
Maiev und ihre Begleiterin begannen zu singen. Ihre Worte ergaben für Jarod keinen Sinn, aber er wusste, dass die Schwesternschaft in ihrer eigenen Sprache zu Elune betete.
Die Aura, von der die Schwestern umgeben waren, dehnte sich auf Rhonin aus. Sein Körper verkrampfte kurz, dann entspannte er sich.
Ein Reiter blieb neben der Gruppe stehen. »Wo ist der Kommandant?«
Einige der berittenen Boten nannten Jarod so, obwohl er sie immer wieder zurechtwies, es zu unterlassen. Die Störung ärgerte ihn so sehr, dass er auf dem Absatz herumfuhr und knurrte: »Halt den Mund, bis ich dir zu sprechen erlaube …«
Die Augen des Reiters weiteten sich. Der Captain bemerkte erst jetzt die goldenen Klappen auf dessen Schultern und das Emblem auf der Brustplatte.
Er hatte einen Adligen beleidigt.
Doch der Reiter schien es ihm nicht übel zu nehmen, denn er nickte nur entschuldigend und schloss den Mund. Jarod versuchte seine Überraschung zu verbergen, indem er sich wieder den Schwestern zuwandte.
Maiev schwitzte. Die zweite Priesterin zitterte. Rhonins Körper hatte sich noch mehr verkrampft, und seine ohnehin helle Haut war so weiß wie der Mond.
Der Zauberer richtete sich plötzlich auf. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, dann blinzelte Rhonin zum ersten Mal seit seiner Bewusstlosigkeit.
Der Mensch stöhnte. Er wäre gegen den Felsen gerutscht und hätte sich vielleicht verletzt, wenn der Captain ihn nicht gestützt hätte.
Seufzend schloss der Magier die Augen. Sein Atem ging gleichmäßig.
»Ist er …«
»Der Dämon hat seine Macht über ihn verloren, Bruder«, antwortete Maiev mit zitternder Stimme. »Er wird sich jetzt ausruhen, so lange es sein muss.« Sie stand auf. »Es war ein harter Kampf, aber Elune hat Großmut bewiesen.«
»Danke.«
Seine Schwester sah ihn erneut seltsam an. »Gerade du schuldest mir keinen Dank. Komm, Jia. Wir müssen noch vielen anderen helfen.«
Jarod sah Maiev einen Moment lang nach, dann wandte er sich an den Adligen. »Vergebt mir, Milord, aber …«
Der Reiter wischte seine Worte mit einer Geste beiseite. »Meine Sorgen können warten. Ich habe nicht bemerkt, dass es um den fremden Magier ging. Ich bin Lord Blackforest. Ich kenne dich, oder?«
»Jarod Shadowsong, Milord.«
»Nun, Commander Shadowsong, ich bin sehr froh, dass du nicht mit Lord Stareye und den anderen gefallen bist. Man sagt, du hättest bis zum Schluss versucht, ihn zu retten.«
»Milord …«
Blackforest ignorierte den Einwurf. »Ich sammle die Offiziere. Stareyes Strategien waren unzureichend, möge Mutter Mond mir meine Respektlosigkeit gegenüber einem Verstorbenen vergeben. Uns muss etwas Besseres einfallen – wenn wir überleben wollen. Du wirst natürlich da sein, um uns anzuleiten, nehme ich an.«
Jarod fehlten die Worte. Er nickte instinktiv und ohne nachzudenken. Der Adlige las aus der Geste offenbar Zustimmung, denn er nickte dankbar zurück.
»Mit deiner Erlaubnis werde ich das Treffen in meinem Zelt ausrichten und meine Suche fortsetzen.« Blackforest nickte ein weiteres Mal, dann wendete er sein Tier und ritt davon.
»Du hast es wohl inzwischen zu was gebracht«, sagte eine raue Stimme.
Er drehte sich um. Rhonin hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Der Zauberer wirkte immer noch blass, aber deutlich gesünder. Jarod nahm eine Wasserflasche aus einem Sack und reichte sie ihm. Rhonin trank gierig.
»Ich hatte Angst, der Zauber könne deinen Geist in Mitleidenschaft gezogen haben. Wie geht es dir, Meister Rhonin?«
»Als würde sich ein Regiment von Höllenkreaturen von innen gegen meinen Schädel werfen … und das heißt, dass es mir besser geht.« Der Mensch richtete sich auf. »Ich nehme an, es gab ein paar Probleme während meiner Abwesenheit.«
Der Captain berichtete alles, fasste sich aber kurz und spielte seine eigene Rolle herunter. Trotzdem sah der Zauberer ihn bewundernd an.
»Krasus hat dich also richtig eingeschätzt. Du hast nicht nur uns gerettet, sondern wahrscheinlich die ganze Welt … zumindest für den Augenblick.«
Die Wangen des Nachtelfen färbten sich dunkel. Er schüttelte vehement den Kopf. »Ich bin kein Anführer, Meister Rhonin. Ich wollte nur überleben.«
»Na ja, nett, dass du allen anderen auch beim Überleben geholfen hast. Stareye ist also tot. Das tut mir Leid für ihn, aber nicht für die Armee. Freut mich, dass einige Adlige ihren Verstand wiedergefunden haben. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung.«
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich mit ihnen treffen werde?« Jarod stellte sich vor, wie Blackforest und die anderen ihn umringten und anstarrten. »Ich bin nur ein Wachoffizier aus Suramar.«
»Jetzt nicht mehr …« Der Zauberer wollte aufstehen, benötigte aber Jarods Hilfe. Er streckte sich und sah dem Nachtelf in die Augen. »Nein, jetzt nicht mehr.«
Korialstrasz war noch nicht so geduldig wie sein älteres Ich, und so begann er nach einer Weile nervös zu werden. Der rote Drache wusste, dass einige Zeit bis zur Rückkehr der Gruppe vergehen würde – wenn sie überhaupt zurückkehrte –, und obwohl er versuchte, währenddessen seinen Frieden zu finden, gelang ihm das nicht. So viele Gedanken spukten durch seinen Kopf. Alexstrasza, die Brennende Legion, Krasus’ Anwesenheit … und so weiter. Er erinnerte sich auch nur zu gut an seine Niederlage gegen Neltharion. Jetzt näherte sich sein anderes Ich dem Nest des wahnsinnigen Drachen. Er befürchtete, dass auch Krasus der Dämonenseele zum Opfer fallen würde.
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