Obwohl diese Information so unwahrscheinlich erschien, hörte ich genau zu, weil ich gerade in einem von Morats Zauberbüchern auf einen alten Spruch gestoßen war. Das Papier war teilweise schon zerbröselt, so daß ich nicht mehr alle Sätze entziffern konnte, aber der Spruch hat mich gefesselt.«
Tanis sah Raistlin prüfend an. Wie damals, als er die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, dachte der Halbelf, daß Raistlin bei seinem Bericht etwas für sich behielt.
»Ich wußte, daß man für den Spruch Jalopwurz brauchte«, fuhr Raistlin fort, »und daß es Jalopwurz hierzulande kaum gibt. Das war die Gelegenheit, etwas davon zu bekommen. Sturm und Caramon boten sich an, Tolpan auf der Reise nach Südergod zu begleiten, der etwas für mich holen wollte.«
»Und?« hakte Flint ein, der allmählich fand, daß Raistlin neuerdings furchtbar umständlich wurde. Der Zwerg wußte genau, was es mit diesem Was-auch-immer-Pulver auf sich hatte, und kannte die Gründe, die zu der Reise nach Südergod geführt hatten. Er zielte und warf einen weiteren Stein. Neunmal setzte er auf, wie der Zwerg befriedigt feststellte.
Raistlin legte die Fingerspitzen aneinander und starrte die beiden durchdringend an, was Tanis irritierte. »Nachdem ich Tolpans Nachricht erhalten habe, bin ich gestern nach Teichgrund gelaufen, um mich mit dem Zaubermeister zu beraten. Er hat mich an etwas erinnert, daß ich hätte in Betracht ziehen müssen. Jalopwurz kommt in großen Mengen nur auf der Insel Karthay vor, einer abgelegenen, einsamen Ecke der Minotaurischen Inseln. Nach minotaurischem Recht darf es nicht aus dem Reich gebracht oder verkauft werden. Den Minotauren ist Jalopwurz heilig. Das bedeutet, wer auch immer den kräuterkundigen Minotauren getötet hat – «
»Argotz«, erinnerte sich Tanis leise.
»Wer auch immer Argotz getötet hat«, fuhr Raistlin fort, »ist vielleicht auch Sturm, Caramon und Tolpan gefolgt, um auch sie zu töten.«
Tanis sprang auf, weil er auf ein Abenteuer brannte, weil er darauf brannte, etwas zu tun – etwas anderes, als in Solace herumzusitzen. »Dann müssen wir nach Rachebucht, diese Seeleute ausfindig machen und sie zwingen, uns zu erzählen, was aus der Venora geworden ist. Falls nötig, gehen wir nach Osthafen und suchen dort nach Hinweisen.«
Flint blickte seinen Elfenfreund entsetzt an. »Nach Rachebucht… Osthafen?« stotterte der Zwerg. Er sorgte sich um seine Freunde, aber das erschien ihm doch etwas übereilt. Flint hatte mit dem Gedanken gespielt, im Sommer eine Reise zu machen, jedoch zu einem schönen, ruhigen, stillen Ort oben in den Bergen, nicht in die überfüllten, lauten Städte der Küste.
»Nein«, sagte Raistlin schlicht. »Es ist über zehn Tage her, seit der Trödler in Rachebucht war. Und Osthafen würde nichts bringen. Das wäre nutzlos.«
»Raistlin hat recht«, stimmte Flint eilig zu. »Es wäre völlig sinnlos.«
Raistlin machte eine ungeduldige Geste. »Und denkt dran, die Matrosen haben ihr Gelage mit Minotaurengeld bezahlt«, sagte der Magier. »Nein, es wäre sinnlos, nach Westen zu reisen, denn wenn ich recht habe, dann sind mein Bruder und unsere Freunde weit, weit im Osten – und in Gefahr. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich dorthin. Zum Blutmeer und auf die Minotaurischen Inseln.«
»Zum Blutmeer?« erschrak Flint. Aus seinem Gesicht wich alle Farbe. Er mußte sich setzen, um diesen Schock zu verdauen.
»Auf die Minotaurischen Inseln?« fragte Tanis überrascht. »Aber die sind Tausende von Meilen entfernt, das ist eine monatelange, anstrengende Reise über Land. Selbst wenn Sturm, Caramon und Tolpan dorthin gebracht wurden – wenn sie in Gefahr sind, können wir nicht hoffen, rechtzeitig zu kommen.«
»Wie zum Teufel sollten sie in so kurzer Zeit von der Straße von Schallmeer auf die Minotaurischen Inseln gelangen?« fragte Flint befremdet.
»Ich weiß nicht, wie«, gestand Raistlin. »Wahrscheinlich durch irgendwelche hochentwickelte Magie. Aber wenn sie leben, dann sind sie dort. Davon bin ich überzeugt. Und ich werde dorthin gehen und versuchen, sie zu finden. Das einzige, was ich wissen will, ist, ob ihr mitkommen wollt?«
»Wie?« fragte Tanis erneut. »Wie können wir denn hoffen, eine solche Entfernung zu überwinden?«
Die Augen des Magiers glitzerten aufgeregt. »Als ich mit Morat sprach, hat er mir von einem Orakel erzählt, das am Düsterwald lebt und ein Portal kennt, das uns in wenigen Augenblicken nach Ogerstadt an die Küste des Blutmeers bringt.«
»Ogerstadt!« murmelte Flint untröstlich.
»Dort müssen wir uns einschiffen, um über das Blutmeer zum Minotaurischen Königreich zu kommen.«
»Oh, nein!« Flint riß die Arme hoch. »Ich fahre über kein Blutmeer! Ich weiß alles über das Blutmeer!« Er wies über den friedlichen Krystallmirsee. »Vielleicht«, fuhr er fort, »aber nur vielleicht würde ich über den Krystallmirsee fahren, um meine Freunde zu retten, aber vielleicht auch nicht. Es würde von meiner Stimmung abhängen und davon, welche Freunde es gerade wären. Aber du kriegst mich nicht in ein Boot, das über das Blutmeer fährt, ganz egal welches Portal oder welche Freunde oder wieviel Kupferstücke du einem gerissenen, wandernden Trödler gegeben hast!«
Raistlin achtete nicht auf den graubärtigen Zwerg, der theatralisch herumstapfte und dabei gegen Steine und Baumstümpfe trat. Prüfend sah er Tanis an. Der Halbelf wiegte sich unter Raistlins Blick betroffen hin und her. Tanis ahnte, daß der Magier mehr wußte, als er ihnen mitteilte, aber sein eigentliches Ziel bezweifelte er nicht. Er wußte, wenn Raistlin glaubte, Sturm, Caramon und Tolpan wären in Schwierigkeiten, dann waren sie es auch.
Nach langem Schweigen stand Tanis auf und streckte zum Zeichen seines Einverständnisses die Hand aus. »Sie würden für uns ihr Leben aufs Spiel setzen«, sagte der Halbelf ernst, »und das schulden wir ihnen auch.«
Raistlin nickte ihm dankbar zu.
»Was ist mit Kit?« fragte Tanis, dem sie plötzlich einfiel. »Meinst du nicht auch, einer von uns sollte versuchen, sie zu benachrichtigen?«
»Ich habe ihr bereits eine Botschaft geschickt«, sagte Raistlin. »Mach dir keine Gedanken um Kitiara. Wenn sie zu uns stoßen kann, wird sie das auch tun.«
»Aber wo ist sie?« drängte Tanis. »Vielleicht könnte ich – «
Raistlin schnitt ihm mit einem Blick das Wort ab.
Flint stand finster am Ufer, wo er einen sauber gerundeten, flachen Stein in der Hand hielt. Er schleuderte ihn über das Wasser. Der Stein schlug einmal, zweimal auf, dann sank er. Ein böses Omen, da war er sich sicher.
Der kräftige Zwerg kam zu Raistlin und Tanis herüber, die seine Entscheidung erwarteten. Er blickte beiden ins Gesicht. Er war davon überzeugt, zwei Trottel vor sich zu sehen.
Dann streckte er seinen kräftigen, rechten Arm aus und legte seine knorrige Hand über die von Tanis und Raistlin. »Ich möchte nur eines klarstellen«, grollte der Zwerg den Zauberer an. »Ich mache das für Sturm und für deinen Bruder, nicht für diesen verdammten Kender!«Raistlin hatte ihnen aufgetragen, Proviant, Waffen, Kleider, Kletterausrüstung und andere wichtige Dinge einzupacken. Flint bekam in dieser Nacht wenig Schlaf, packte seinen Reisesack immer wieder ein und aus, schärfte Axt und Messer und murmelte vor sich hin, was für ein Dummkopf er war. Kurz vor der Dämmerung klopfte es an der Tür. Breit grinsend und reisefertig stand Tanis da. Wieso war der Halbelf so verdammt guter Laune, fragte sich Flint.
Sie sollten Raistlin an einer Biegung der Straße treffen, die aus Solace heraus führte. Als er aus der Tür rannte, fiel Flint noch etwas ein. Er eilte wieder zurück und holte ein Stück Rinde. Mit einem Stück Holzkohle kritzelte er etwas darauf und hängte das Schild an die Tür, bevor er und Tanis in die graue Morgendämmerung liefen.
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