Der Nachtmeister glaubte, daß unter der ovalen Vertiefung der eigentliche Vulkankrater lag, dessen Ausbruch dem Einbruch der Spitze ins Zentrum des Berges vorausgegangen war. Und unter dem ursprünglichen Krater wartete wiederum die Feuerfontäne, die die vulkanische Aktivität erneut entfachen konnte. Seit Wochen hatten die Gefolgsleute des Nachtmeisters zusammen mit den Minotaurentruppen daran gearbeitet, die Öffnung freizulegen.
Von seinem Lager an der aschebedeckten Terrasse der einst großartigen Bibliothek der alten Stadt war der Nachtmeister regelmäßig zu einem Bergplateau im Westen von Karthay gewandert, um die Zeichen zu deuten. Der Zauberspruch, der Sargonnas rief, würde hier gewirkt werden, auf dem Gipfel und im Herzen des Vulkans.
Alles war vorbereitet. Die Akolythen und eine ausgewählte Anzahl Minotaurensoldaten lagerten seit Tagen auf dem Gipfel, wo sie das benötigte Labor aufgebaut, die verschiedenen Zutaten – Talismane, Steine und tote Tiere – aufgereiht und die Bücher und Spruchrollen bereitgelegt hatten, die der Nachtmeister brauchen würde, um den Zauber zu sprechen.
Nach langen, arbeitsreichen Stunden war jetzt die Spitze des ursprünglichen Vulkans ausgegraben und der Mund der Feuerfontäne freigelegt. Der Durchmesser der Öffnung betrug rund ein Dutzend Fuß. Tief unten konnte man feurige, orangerote Lava blubbern und brodeln sehen.
Die Soldaten hatten am Rand der Öffnung ein Holzgerüst gebaut. Ein Dutzend Stufen führten zu einer Plattform, von der aus man die Feuerfontäne überblicken konnte.
Die Sterne standen beieinander. Der Tag wich der Nacht.
Alles war bereit, als der Nachtmeister und seine Gruppe den Gipfel erklommen. In seinen zeremoniellen Pelzen und Federn schritt der Nachtmeister mit klingenden Glöckchen stolz auf die ovale Vertiefung zu, die den eigentlichen Krater beherbergte. Er lief zwischen einem Spalier von Akolythen und Soldaten hindurch, die sich aufgestellt hatten, um ihn zu begrüßen.
Dem Nachtmeister folgten zahlreiche bewaffnete Minotauren und die Hohen Drei, die Schamanen. Dahinter kam ein junger, dünner Mensch in dunkler Robe, der stolpernd von dem mürrischen Dogz mitgezerrt wurde, und ein Kender ohne Haarknoten, der begeistert von dem glorreichen Schauspiel des Bösen plapperte, dessen Zeuge er nun werden würde.»Raistlin, verrate mir, wie du herausgefunden hast, daß ich diesen alten, allgemein vergessenen Zauber wirken will. Befriedige meine Neugier. Du weißt, du stirbst ohnehin.«
Der Nachtmeister beugte sich mit triumphierendem Grinsen über Raistlin.
Der junge Magier saß eisern schweigend auf einem Stein in der Nähe des Kraters. Die Arme waren ihm hinter dem Rücken zusammengebunden, und auch die Füße waren mit einem Seil gefesselt. Aber Raistlin weigerte sich, seine Niederlage einzugestehen. Statt dessen lächelte er den Nachtmeister bei seiner Antwort rätselhaft an.
»Das war Zufall. Es war nur eine zerrissene Seite in einem vergilbten Zauberbuch, die mir auffiel. Ich wußte, daß der Spruch etwas mit minotaurischen Ritualen zu tun hatte. Soviel war klar. Und es wurde Sargonnas erwähnt, der Herr der Finsteren Rache. Aber ich hatte keine Chance, die Zutaten zusammenzubekommen, und mehr kümmerte mich nicht.
Dann erwähnte mein Freund, Tolpan Barfuß«, hier nickte Raistlin in Richtung des Kenders, der zwischen den Mitgliedern der Hohen Drei herumsprang, denen er beim Mischen von Tränken und Ingredienzien helfen wollte, aber vor allem im Weg war, »zufällig einen kräuterkundigen Minotaurus auf der Insel Südergod. Ein kräuterkundiger Minotaurus… meine Neugier war geweckt. Ich fragte einen Freund von Tolpan, einen Kender, der mir manchmal Wurzeln, Kräuter und anderes verkaufte, nach bestimmten, speziellen Zutaten, die auf der zerfledderten Seite des vergilbten Zauberbuchs erwähnt wurden.
Eine dieser Zutaten war das Jalopwurzpulver, und der Kender versicherte mir, daß der Minotaurus es vorrätig hätte. Zusammen mit meinem Bruder und einem Freund bot sich Tolpan freiwillig an, nach Südergod zu reisen, um das Jalopwurzpulver zu kaufen.«
Hier legte Raistlin eine Pause ein und blickte sich um. Der fahle Abend war angebrochen und versprach eine kalte Nacht, in der man die Sterne deutlich sehen würde.
Die Akolythen und Truppen hatten sich an den Rand des Gipfels zurückgezogen, wo sie in sicherer Entfernung auf das kommende Schauspiel warteten. Schweigend und ernst hielten sich die wenigen Soldaten vom Nachtmeister, Raistlin und den anderen fern. Sie hielten ihre Waffen hoch, so daß der Stahl und die eingelassenen Edelsteine im Licht der Zwillingsmonde glänzten.
Dogz stand neben dem Nachtmeister, um Raistlin zu bewachen.
»Selbst da habe ich mir noch nicht viel dabei gedacht«, fuhr der junge Magier fort. »Es gehört zu meinem Beruf, mich für exotische Kräuter und seltene Sprüche zu interessieren. Dann verschwanden allerdings mein Bruder, sein Freund und Tolpan. Und vor ihrem Verschwinden schickte mir Tolpan eine magische Flaschenpost, die mir alles über die seltsame Hinrichtung des kräuterkundigen Minotaurus berichtete.
Der Überbringer der Flaschenpost fügte ein paar seltsame Einzelheiten über das vermißte Schiff und seinen verräterischen Kapitän hinzu. Nach Erfüllung seiner Aufgabe schien der Kapitän auf eine Weise umgekommen zu sein, die mir eindeutig magisch erschien.«
Raistlins Augen glitzerten schlau.
»Das meiste habe ich mir danach zusammengereimt. Ich ging wieder an mein zerfallenes Zauberbuch und las und prüfte diesen einen Spruch. Ich besprach meine Schlußfolgerungen mit«, hier zögerte er, »sagen wir, einem erfahrenen Ratgeber. Durch diese Bemühungen dämmerte mir allmählich, daß das Jalopwurzpulver nur ein kleiner Teil eines magischen Vorhabens war, das gewaltiger war als alles, was ich vermutet hatte. Dieser ehrgeizige Spruch mußte Minotauren von höchstem Rang einbeziehen, und der geplante Zauber würde im Erfolgsfall Sargonnas, den Gott der Minotauren, auf die materielle Ebene bringen. Der logische Ort für solch ein Ritual würde hier bei den Ruinen von Karthay sein, am letzten bekannten Ort auf Krynn, wo der Herr der Rache seinen feurigen Zorn gezeigt hat.«
»Du hast meine magische Flaschenpost also erhalten!« zirpte Tolpan. Der Kender war hinter Raistlin aufgetaucht. »Ich bin froh, daß sie nicht verschw—«
Der Nachtmeister schnappte sich Tolpan, dessen Gewohnheit, einfach loszuplappern, ihn allmählich ärgerte. Er klemmte sich den Kender ziemlich grob unter einen Arm und hielt ihm mit seiner riesigen Hand den Mund zu.
Raistlin sah die beiden kühl an.
»Ja«, schnurrte der Nachtmeister, während Tolpan sich größte Mühe gab, aus dem festen Griff des Oberschamanen zu entkommen. »Tolpan hat dir eine magische Flaschenpost geschickt. Ihr zwei seid alte Freunde, nicht wahr? Wie gefällt dir denn der neue, bessere Tolpan – dem einer meiner Jünger einen Trank verabreicht hat? Der macht ihn zu einem bösen Kender. Er war uns bisher«, der Nachtmeister drückte Tolpan fest, »von größtem Nutzen, und ich denke doch, daß er uns auch in Zukunft nützlich sein wird.«
Raistlin sah den zappelnden Kender an. Dann ging sein Blick zum Nachtmeister zurück. »So habt ihr es also geschafft«, sagte Raistlin. »Ein Trank.«
»Zweifelst du daran?« grollte der Nachtmeister. Einen Augenblick nahm der Nachtmeister seine Hand von Tolpans Mund.
»Es stimmt«, sagte Tolpan, der sein Gesicht zu einer möglichst gräßlichen Fratze verzog. »Ich bin jetzt unglaublich böse. Tolle Veränderung, was?«
Der Nachtmeister schlang seinen Arm wieder um den Kender, und Tolpan zappelte weiter.
»Ich hätte erwartet«, sagte Raistlin schlicht, »daß so ein Trank keine Langzeitwirkung hat.«
Der Nachtmeister lächelte. »Du hast ganz recht«, knurrte er. »Dogz!« Dogz kam näher, und der Nachtmeister reichte ihm den Kender. »Gib Tolpan seine doppelte Dosis – jetzt!«
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