Die Schlingpflanzen nachwuchsen? Schilf aus dem Wasser wuchs?
Ich schrieb es dem täuschenden Licht auf der Lichtung und dem Schlag zu, den ich beim Absteigen abbekommen hatte. Der Zentaur sah mich jetzt wieder direkt an. Flucht kam immer noch nicht in Frage.
Seine Augenbrauen, die wie sein Rücken braunweiß gesprenkelt waren, zogen sich zusammen. Er war jung – nur ein oder zwei Jahre älter als ich, falls Zentauren ähnlich alterten wie wir. »Ich dachte, ihr wärt Fabelwesen«, murmelte ich und sah mich auf dem Hügel um. Ich hielt Ausschau nach kleinen, engen Pfaden in den Sumpf und… in die Sicherheit? Bei Krokodilen, Treibsand und Krankheiten?
Vielleicht sollte ich mein Glück bei dem großen getupften Kerl da vor mir versuchen. Schließlich klingt jemand, der so förmlich redet, für mich nicht wie ein typischer Mörder. Wenn er jung war, dann war er vielleicht dumm und leicht zu beeinflussen.
Das ist eine ziemlich sichere Regel, und Agion war da keine Ausnahme.
So hieß er nämlich, auch wenn mir das zu diesem Zeitpunkt herzlich egal war. Als er sicher war, daß wir eine Weile allein sein würden, wurde mein neuer Gefährte gesprächig, ja fast unbedarft. Rasch erfuhr ich seine Lebensgeschichte: Er war unter den Zentauren kein großes Tier, sondern war noch jung und galt bei seinem Volk als etwas langsam und tölpelhaft. »Dich zu bewachen, ist die erste richtige Aufgabe, die die Ältesten mir in diesem Krieg hier gegeben haben«, erklärte er stolz.
»Krieg? Warte mal, Agion. Was soll das heißen, Krieg?«
Der große Kerl hielt inne und wurde rot.
»Ich habe vielleicht schon zuviel gesagt. Meine Gefährten werden Ihm erzählen, was Er wissen muß, wenn es soweit ist.« Er trottete zu einer Ecke der Lichtung und spähte in die Blätter und den Matsch zurück. Hinter ihm wuchs das Moos und das Gras, das seine Hufe zertrampelten, sofort auf unnatürliche Weise nach. Ich konnte mich nicht daran gewöhnen.
»Agion, man läßt derartige Bemerkungen nicht einfach vor irgendwelchen Zuhörern los und läßt dann das ganze Thema fallen. So etwas tut man nirgendwo außerhalb eines Sumpfes. Zivilisierte Menschen verhehlen es nicht, wenn eine Katastrophe bevorsteht.«
Agion runzelte die Stirn. »Es tut mir leid, daß ich eine solche Nachricht fallen gelassen habe, junger Herr, doch ich fürchte, das ist so meine Art. Die anderen sagen, daß ich einfach zuviel rede.« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Sie sagen aber auch, daß ich ein gutes Herz habe.«
Waren alle Zentauren solche Simpel? Wie sehr ich mir meine Karten und ein bißchen Startgeld wünschte! Das hier war ein zweiter Alfrik ohne dessen Bosheit und mit zwei zusätzlichen Beinen. Ich legte mich wieder ins Gras, das seit meiner Ankunft schon einen Fingerbreit gewachsen war.
Trotz allem, was Brithelm auf unseren scheinbar so weit zurückliegenden Spaziergängen im Hof erzählt hatte, entsprachen einige Gerüchte über diese Gegend anscheinend der Wahrheit. Etwas an dieser Vegetation, die sich änderte und ständig nachwuchs, war merkwürdig. Ich hoffte zutiefst, daß es harmlos war. Inzwischen verfolgte ich weiter meine einfache, direkte Strategie, aber wie sollte ich wissen, ob Zeit für lange Erklärungen bleiben würde?
»Wenn du ein gutes Herz hast, Agion, und so kommt es mir auch vor, dann solltest du vielleicht folgendes bedenken. Ich weiß von keinem Krieg – weder wo er stattfindet, noch wer die Gegner sind, noch wie man ihm aus dem Weg gehen kann –, und du hast jetzt sozusagen eine Fackel auf den Zunder geworfen. Ich wurde von meinem ehrenwerten Herrn getrennt – wo ist der überhaupt? –, und ist es nicht irgendwie deine Pflicht, meine Sorgen zu beschwichtigen und den Argwohn und das alles zu zerstreuen?«
Agion ging ein paar Schritte einen Pfad hinunter und duckte sich unter ein paar niedrigen Pinienzweigen durch. Er drehte sich wieder um, duckte sich wieder unter den Zweigen durch und kehrte zur Lichtung zurück, wobei er Matsch und Gras über den trockenen Boden mitzog. Obwohl das Gras ausgerissen war, wuchs es weiter.
»Und? Ich meine, du bist es, der das mit dem Krieg erwähnt hat, Agion.«
»Das hätte ich aber nicht tun sollen, kleiner Freund.« Er sprang einen weiteren Pfad in den Sumpf hinunter, während ich mich wunderte, wie er mich nach so kurzer Bekanntschaft »kleiner Freund« nennen konnte. Besonders wo ich seine Organe ohne Zögern an die Goblins verkauft hätte, um die Information zu erhalten, die er mir partout nicht geben wollte. »Wo sind sie denn bloß?« fragte er ungeduldig und fuchtelte mit der riesigen, bösartig aussehenden Sense herum.
»Immer mit der Ruhe, Agion«, besänftigte ich. »Du siehst aus wie ein Gemälde vom berittenen Tod, wenn du das Ding da schwingst. Hast du ganz sicher die richtige Lichtung?«
»Völlig sicher«, erwiderte Agion. »Sie haben gesagt, wir würden uns am zweiten Vorposten treffen, wenn er nicht seit unserem Treffen heute morgen zugewachsen wäre, und… bei den Göttern, ich habe Ihm schon wieder ein Geheimnis verraten!« Er schlug sich so kräftig an die Stirn, daß ich davon den Verstand verloren hätte. Ich mußte schnell sein Vertrauen gewinnen, bevor die anderen kamen. Ich stand auf und ging langsam auf ihn zu, wobei ich unaufhörlich redete.
»Ich weiß nicht, wo wir sind, was der zweite Vorposten ist oder warum sie sich überhaupt hier treffen wollten. Dein Gefangener hat von nichts eine Ahnung: Ich weiß nichts von einem Krieg, was hier überhaupt los ist, oder auf welcher verdammten Seite die verdammten Zentauren stehen, wenn du meine einfache Sprache entschuldigen kannst, aber es ist absolut niederschlagend, dieses ganze Gerede über ein Ereignis größter Tragweite zu hören, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was…«
»Er plappert, kleiner Freund«, warnte mich Agion und erhob seine Sense in einer Geste, die ich als Ärger mißverstand. »Ich denke, Er könnte etwas Ruhe gebrauchen, damit Er wieder zu Atem kommt. Ich kann Ihm nichts sagen, bis der Verdacht von Seinem Verhalten genommen ist.« Beiläufig hackte er Äste von der Pinie neben sich, damit er darunter durchschlüpfen konnte. Die Äste wuchsen nach.
»Und wessen habe ich mich schuldig gemacht, Agion?«
»Spionage, kleiner Freund. Hätte Er die Rüstung von Solamnia getragen wie Sein Freund, so hätten wir Ihn einfach als Kriegsgefangenen genommen, weiter nichts. Aber seine Farben zu verstecken, ist in Kriegszeiten gleichbedeutend mit Spionage.«Ich starrte kläglich zu Agion empor, der mit nicht wenig Mitleid auf mich herunterblickte. Eine Lerche zwitscherte kurz links in den Büschen, ob »links« nun Süden oder Norden oder sonst was war. Obwohl der Regen nachließ, sah die Lage trüb und schlüpfrig aus.
»Äh… Verzeihung, Agion, aber was ist denn in dieser Gegend die übliche Strafe für Spione?«
»Mein Volk hat wenig Sinn für Dramatik, kleiner Freund«, lächelte der Zentaur. Dann verdüsterte sich sein Gesicht, und die gepunkteten Augenbrauen schoben sich über seinem Nasenrücken zu einer dicken Haarlinie zusammen. »Meistens ertränken wir die armen Seelen. Nehmen sie an ihren armen, kleinen Knöcheln und hängen ihre armen, kleinen Gesichter in Teiche oder Bäche. Mit dem Gesicht gegen den Strom, natürlich. Da lassen wir sie, ›bis sie voll für ihre Tücke bezahlt haben‹, wie die Ältesten sagen.«
Ein ziemlich barbarischer Gebrauch der Wasserwege von Küstenlund, wenn man mich fragt.
»Gilt das auch für die Kleinen?«
Agion nickte. »Soweit ich weiß. Ich habe allerdings nie selbst gesehen, wie ein Spion hingerichtet wurde, ob alt oder jung.«
»Gilt das auch für solche, die gegen ihren Willen zur Spionage gezwungen wurden – also die, die wirklich nichts gegen Zentauren haben, sondern Spione werden, weil es eine Wahl zwischen Leben und Tod ist?«
»Wie ich schon sagte, kleiner Freund, ich habe die Vollstreckung nie gesehen. Genausowenig wie einen Prozeß, wo solche Dinge verhandelt wurden. Ich kann Ihm wirklich nicht antworten.«
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