Der Winter war inzwischen endgültig über Ancaria hereingebrochen; auch wenn der Schnee nicht bis in den Wald fiel, Zara konnte ihn riechen, und gerade in den Nächten wurde es klirrend kalt.
Jahns Verletzungen heilten zusehends. Die geprellten Rippen bereiteten ihm zwar hin und wieder noch Probleme, wenn er sich falsch oder zu ruckartig bewegte, doch es würde nicht lange dauern, bis auch das aufhörte, und dann würden nur noch die Wunden in seiner Seele an sein Zusammentreffen mit den Wegelagerern erinnern. Doch diese Wunden, das wusste Zara aus eigener Erfahrung, waren die, die am längsten schmerzten. Was sie selbst anging, so waren ihre Verletzungen schon am ersten Tag vollends verheilt; nur zwei kleine kreisrunde Narben erinnerten an die Pfeile, die vor zwei Tagen noch fingertief in ihrem Fleisch gesteckt hatten. Auch, wenn sich ihre Begleiter darüber wundern mochten, es verlor niemand ein Wort darüber, und Zara war dankbar dafür.
Letzte Nacht, als sie nach dem Essen um ihr Feuer lagen, um ein paar Stunden zu schlafen, hatte Zara bemerkt, dass Jahn im Schutz seiner Decke leise betete; vermutlich nahm er an, sie und Falk würden tief und fest schlafen. Obwohl sie einige Meter weit weg lag und das Gebet des jungen Mannes kaum mehr als ein Flüstern unter dem leisen Rascheln der Blätter war, konnte Zara hören, was er sagte. Er bat darum, dass sein Gott seine geliebte Wanja bis zu seiner Rückkehr behüten und beschützen möge, dass seine Schwester im Tode ein besseres Leben führen würde als zu Lebzeiten – und dass Zara die Kraft haben würde, die Bestie zur Strecke zu bringen, um Moorbruch endlich wieder Frieden zu schenken.
Zara hatte sich mucksmäuschenstill verhalten und so getan, als würde sie schlafen, doch insgeheim hatte sie auf jedes Wort gelauscht, das über Jahns Lippen kam. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass sie jemals irgendjemanden in ihr Nachtgebet eingeschlossen hatte, mal abgesehen von ihrer Mutter, und langsam aber sicher spürte sie immer stärker die Last der Verantwortung, die sie sich mit dieser Sache aufgeladen hatte. Jahn sah in ihr die Rettung für die Menschen von Moorbruch, und sie hatte keine Ahnung, ob sie dem gerecht werden konnte.
Moorbruch tauchte schließlich am Ende des zweiten Tages vor ihnen im trüben Schein der Abenddämmerung am Fuße eines Hügels auf. Jahn stieß ein erleichtertes Seufzen aus, froh, wieder zu Hause zu sein. Falk hingegen blinzelte verblüfft mit den Augen; Zara war sich nicht sicher, was er von dem Ort erwartet hatte, aber ganz offensichtlich nicht das, was sich da am Fuße des kleinen bewaldeten Hügels vor ihnen ausbreitete.
Moorbruch bestand aus vier Dutzend Häusern, Hütten, Gehöften und Gebäuden, die sich wahllos auf der Lichtung zwischen den Bäumen erstreckten, wie Farbkleckse, die ein Kind achtlos auf eine Tafel getupft hatte. Zumeist waren es schäbige, windschiefe Katen mit Dächern aus Schieferholz, einige mit einem kleinen Garten oder einem schäbigen Stall, doch es gab auch eine Hand voll ansehnlicherer, aus Bruchstein errichteter Gebäude mit leuchtend roten Ziegeldächern, die zwischen den einfachen Hütten seltsam fehl am Platz wirkten. Aus den Schornsteinen stiegen senkrecht Rauchfahnen in die graue Luft, und aus zahlreichen Fenstern viel Feuerschein auf den frisch gefallenen Schnee. Ein Bach lief durch den Ort, über den am Ortseingang eine steinerne Brücke führte.
Ein Labyrinth aus Trampelpfaden verband die Gebäude miteinander, und ein breiter Pfad aus fest gestampfter Erde verlief quer durch den Ort zur Kirche, die am hintersten Ortsrand direkt vor dem dunklen Hintergrund des Waldes aufragte. Es war kein Tempel, in dem man den Alten Göttern huldigte, sondern eines jener Gebäude, in denen der einzige Gott einer Religion verehrt wurde, die sich in Ancaria immer mehr ausbreitete und die sich um Gnade und Erlösung drehte. An die Kirche schloss sich ein kleiner Friedhof an, voller windschiefer Grabsteine und Kreuze, das Zeichen jenes Glaubens, dem die Moorbrucher offenbar mehrheitlich anhingen.
Rings um den weitläufigen Platz im Zentrum des Ortes, der von einem alten Steinbrunnen beherrscht wurde, staken Pechfackeln in der Erde, deren flackerndes Licht der im Stechschritt nahenden Nacht zu trotzen versuchte, während rußiger Qualm wie stinkender Nebel über den Platz zog. Lange Eiszapfen hingen von Querbalken und Dachsimsen, und Büsche und Sträucher waren zu weißer Pracht erstarrt.
Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, doch am Rande des vom Fackelschein erhellten Platzes stand ein großer, zweigeschossiger Steinbau mit spitz zulaufendem Giebel. Über der Tür baumelte ein Holzschild an zwei Eisenketten – ein Gasthaus, und gut besucht noch dazu, so schien es, denn hinter den Fenstern konnte Zara Schatten hin- und herhuschen sehen.
Ansonsten erinnerte Moorbruch an eine Geisterstadt; wären die Fackeln und das Licht hinter den Fenstern nicht gewesen, man hätte meinen können, die Menschen hätten dem Ort schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt.
„Du liebe Güte“, murmelte Falk so leise, dass Jahn ihn nicht hören konnte. Unwillkürlich schlug er seinen Mantelkragen höher, denn je näher sie dem Waldrand gekommen waren, desto kälter war es geworden, und jetzt biss ihnen die Kälte mit scharfen Zähnen ins Gesicht. „Das hier mag vielleicht nicht der Arsch der Welt sein, aber wenn nicht, dann ist es höchstens einen Furz davon entfernt...“
Zara brachte ihr Pferd neben denen ihrer beiden Begleiter zum Stehen und ließ den Blick über den Ort schweifen.
„Es sieht so friedlich aus“, sagte Jahn neben ihr, und ein kleines Lächeln huschte über seine Züge. „Als hätte das Böse nie seine grausigen Pranken auf dieses Stück Erde gesetzt.“ Er deutete auf einen kleinen Hof am Ortsrand. „Dort drüben ... da lebe ich zusammen mit meiner Schwester Ela, nachdem meine jüngste Schwester von der Bestie ermordet wurde. Es ist ein bescheidenes Heim, aber mein Zuhause, und was ich euch an Gastfreundschaft bieten kann, gebe ich gern.“
Bevor Zara darauf etwas erwidern konnte, begannen die Kirchenglocken zu läuten; das tiefe, satte Dröhnen der Glocken wehte wie ein unheilvoller Willkommensgruß zu ihnen herüber – Do-dong!
Do-dong! –, und schlagartig gefror Jahns Lächeln zu Eis.
„Die Glocken ...“, raunte er. „Es muss etwas passiert sein!“
Plötzlich gab es für den jungen Mann kein Halten mehr. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trieb er dem Pferd die Hacken in die Flanke und preschte den verschneiten Hügel hinunter. Die Hufe des Gauls wirbelten Schnee und Erde auf, als Jahn das Pferd den Trampelpfad hinuntertrieb. Zara verdrehte ob seines Ungestüms die Augen, dann preschte sie Jahn hinterher nach Moorbruch, das durch das Glockenläuten unversehens zum Leben erwachte, denn auf einmal war der Ort erfüllt von reger Geschäftigkeit. Aus fast jedem Haus kamen Männer, Frauen und Kinder, viele notdürftig mit Äxten, Knüppeln und Heugabeln bewaffnet, und aus dem Gasthaus strömten ein Dutzend Herren in Amts- oder Jagdgarderobe, die offenbar gerade bei einem Umtrunk in der Schenke zusammengesessen hatten. Über alldem lag das dumpfe Dröhnen der Kirchenglocken, das laut und durchdringend durch die Dämmerung drang und Zara in den Ohren schmerzte, wie Hammerschläge auf einen Amboss, die ihr durch und durch gingen; wie Jahn, der sein Pferd in wildem Galopp auf die Ortschaft zutrieb, ahnte auch Zara, dass das Läuten der Glocken nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Sie erreichte die ersten Häuser von Moorbruch nur Augenblicke nach Jahn, doch anders als dieser, der in gestrecktem Galopp den Hauptpfad entlangpreschte, auf die Schenke und den großen Platz im Zentrum des Ortes zu, zügelte Zara auf einmal ihren Hengst. Einen Moment lang hatte Falk den Eindruck, etwas in Zara sträube sich dagegen, in Moorbruch einzureiten, dann glaubte er den Grund für ihr Zögern zu erkennen; alle, an denen sie vorbeikamen, warfen ihnen skeptische Blicke zu, als sie durch das Spalier der Häuser gemächlich durch den Ort ritten. Dutzende verhärmter, vom Leben gezeichneter Gesichter mit eingefallenen Wangen, tief in den Höhlen liegenden Augen und blasser Haut musterten die Neuankömmlinge argwöhnisch, als Zara und Falk in einigem Abstand hinter Jahn her durch Moorbruch trabten, und hier und da bemerkte Falk, dass sich Männerhände fester um die Stiele ihrer Äxte und Knüppel schlossen, als befürchteten sie, die Fremden wollten ihnen Böses.
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