„Es gibt nichts außerhalb dieser Welt“, sagte Zara unheilvoll. „Doch das ist auch gar nicht nötig. Denn glaub mir, das, was in dieser Welt lauert, reicht bereits vollauf, um deine schlimmsten Albträume wahr werden zu lassen.“
„Mein schlimmster Albtraum ist bereits wahr geworden“, entgegnete Jahn mit belegter Stimme. „Die Vierzehnjährige, die die Bestie vor einer Woche am Ortsrand von Moorbruch gemordet hat...“ Er stockte, und seine Stimme klang dünn, als er fortfuhr: „Sie war meine jüngste Schwester. Ihr Name war Myra.“ Er brach ab, um zu verhindern, dass Tränen seine Worte trübten, doch Zara konnte seine Trauer beinahe körperlich spüren. Jetzt verstand sie, warum er so versessen darauf war, die Bestie zur Strecke zu bringen.
Er wollte Rache.
Rache für seine tote Schwester.
Rache für die anderen neun toten jungen Frauen.
Er wollte, dass in Moorbruch wieder die Normalität einkehrte und man sich nicht mehr fürchten musste, aus dem Haus zu gehen; dass Frauen und Kinder wieder sicher waren und das Morden endlich aufhörte. Aber das war noch nicht alles, wurde Zara klar. Da war noch etwas anderes, das sie vorhin schon bemerkt hatte, als Jahns Blick in die Ferne geschweift war, zu jenen, die er daheim zurückgelassen hatte, als er aufbrach, um Hilfe zu holen.
Auf einmal wusste sie, was es war.
„Wie heißt sie?“, fragte sie ungewohnt sanft.
Jahn antwortete nicht sofort. Es dauerte einen Augenblick, bis er seine Ängste soweit in den Griff bekommen hatte, dass er Zara wieder ansehen konnte. „Wanja“, sagte er, und die Art, wie er den Namen aussprach – so voller Gefühl und Hingabe –, machte deutlich, was er für sie empfand. „Wir sind verlobt.“ Voller Stolz hielt er seine linke Hand hoch und zeigte den schlichten Kupferring. „Sobald der Winter vorüber ist, wollen wir heiraten.“
„Ihr wird schon nichts passiert sein“, sagte Falk. „Mach dir keine Sorgen. Wir werden dafür sorgen, dass dieser Spuk so schnell vorüber ist, wie er begonnen hat, und niemand muss mehr sterben. Nicht wahr, Zara?“ Falk warf ihr einen eindringlichen Blick zu, der sie bat, ihm zuzustimmen, einfach, damit Jahn sich besser fühlte.
Doch Zara war keine Freundin von derlei Augenwischereien. Woher sollte sie wissen, ob Wanja wohlaufwar? Jahn war nach eigenem Bekunden bereits seit zwei Tagen fort, und in dieser Zeit konnte alles Mögliche passiert sein.
Alles Mögliche...
Sie ließ Kjell ein paar schnelle Schritte vortraben, um Abstand zu den beiden jungen Männern zu gewinnen. Sie war sich nicht sicher, was sie von alldem halten sollte. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Jahns Geschichte im besten Falle merkwürdig klang, ja, absurd geradezu. Eine Bestie, die eines Tages aus dem Nichts auftaucht, um jungen Frauen das Herz aus der Brust zu reißen ... Ein Wolf, der sich immer dieselbe Art Opfer sucht und seinen verkleideten Häschern wie ein Geist entkommt, um sie zu verhöhnen ... Eine Bestie, der Kugeln nichts anhaben können ... Das klang alles recht seltsam, zumal Zara fast gänzlich ausschließen konnte, dass es sich um einen Wolf handelte, denn wenn sich in dem Gebiet um Moorbruch ein tollwütiger Wolf herumtrieb, dann wäre das Tier inzwischen längst an der Tollwut verendet, spätestens nach zehn Tagen. Doch die Bestie trieb ihr Unwesen schon länger als einen Monat. Das konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder hatten sie es nicht mit einem tollwütigen Wolf zu tun – oder sie hatten es überhaupt nicht mit einem Wolf zu tun!
Aber wenn es kein Wolf war, was war die Bestie dann?
Zwar teilte Zara den Aberglauben nicht, dass es sich bei der Bestie um eine Kreatur aus einer anderen Welt handelte. Doch sie weilte inzwischen lange genug auf Ancarias Boden, um zu wissen, dass es weit mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als sich die Schulweisheit träumen ließ; sie selbst war dafür der beste Beweis.
Sie wurde in ihren Grübeleien unterbrochen, als Falk zu ihr aufschloss. „Was hältst du davon?“, fragte er. „Von dem unverwundbaren riesigen Ungeheuer aus einer anderen Welt? Ich meine, wer glaubt schon an Ungeheuer? Diese Tage sind längst vorbei.“ Vor ein paar Stunden noch hätte er die Frage wohl flapsiger formuliert, doch Zara nahm an, er fürchtete, Jahn könnte ihn hören und zurechtweisen, wenn er sich zu respektlos zu dem Thema äußerte.
Zara warf ihm einen unterkühlten Blick zu. „Bist du dir da so sicher?“
„Naja.“ Falk schob die Unterlippe vor. „Zumindest ist es ein Zeitalter her, dass man zuletzt einen Drachen in Ancaria gesehen hat, und auch die Dunkelelfen haben sich seit einem Jahrtausend nicht mehr blicken lassen. Und abgesehen von dem einen oder anderen Halsabschneider, der mir aus unerfindlichen Gründen an die Gurgel will, weil er meint, ich hätte ihn beim Spielen betrogen, wüsste ich nicht, dass es Ungeheuer gibt.“
„Ungeheuer können vielerlei Form und Gestalt haben“, sagte Zara. „Wer glaubt, dass Ungeheuer wie in Märchen aussehen und auf den ersten Blick zu erkennen sind, ist entweder ein Narr oder schwachsinnig.“ Sie sah Falk herausfordernd an. „Oder beides.“
Falk zog eine Grimasse, sagte jedoch nichts. Beleidigt ließ er sich wieder zurückfallen. Zara führte ihren Hengst weiter durch den Forst, gefolgt von Jahn, der mit düsterer Miene an all das Grauen dachte, das Moorbruch heimgesucht hatte. Vielleicht fragte er sich, was die anständigen, hart arbeitenden Menschen dort getan hatten, um so ein grausiges Schicksal zu verdienen, doch Zara wusste, dass solche Gedanken müßig waren. Leiden kann bloß, wer auch liebt, hatte einmal ein weiser Mann gesagt. Zaras Meinung nach war zu lieben vermutlich die größte Schwäche von allen. Andererseits war die Liebe auch der Quell der Hoffnung, die Saat, aus der alles Gute erwuchs. Ohne Liebe gab es keine Hoffnung, und wenn es keine Hoffnung mehr gab, verschwand die Grenze zwischen Gut und Böse und mit ihr alle Menschlichkeit.
Zara musste es wissen.
Auch dafür war sie der beste Beweis.
Zwischen zwei Welten wandernd, eine tot, die andere ohnmächtig, geboren zu werden.
Matthew Arnold,
The Grande Chartreuse
Die Reise durch den Dunkelforst währte zwei volle Tage, während derer sie zuweilen nicht recht zu sagen vermochten, ob es sich bei dem Licht, das hier und da in schrägen Strahlen durch das dichte Blätterdach der Bäume fiel, um Sonnenstrahlen oder Mondlicht handelte, so abgeschieden waren sie von der Welt außerhalb des Waldes. Nichts im Forst erinnerte daran, dass es jenseits der Bäume und Sträucher noch irgendetwas anderes gab, als wäre die ganze Welt nichts weiter als ein riesiger, nie enden wollender Wald, in dem Tag und Nacht eins wurden und der anbrechende Winter nur eine Legende war.
Eintönigkeit drückte auf die Gemüter. Wohin man auch schaute, alles sah gleich aus: Sträucher, Büsche und Bäume. Die Zeit kroch quälend langsam dahin. Minuten wurden zu Stunden, Stunden zu Tagen, und am Ende eines Tages hatte man das Gefühl, dass seit dem Morgen Äonen vergangen waren, die man mit gelangweiltem Nichtstun verbracht hatte. Das war vielleicht das Schlimmste daran: dieses Nichtstun, gegen das man nichts ausrichten konnte, und wenn in einem noch so viel Tatendrang steckte.
Während sie hintereinander dem Pfad nach Südosten folgten, wurde nur das Nötigste besprochen. Zweimal am Tag rasteten sie an kleinen Quellen oder Bachläufen, um die Pferde zu tränken, und abends schlugen sie am Wegesrand ihr Lager auf, um nicht nur den Pferden, sondern auch sich selbst ein wenig Schlaf zu gönnen. Bald war der Rest Brot aufgebraucht, doch Jahn war ein geschickter Jäger, und während am ersten Abend ihrer Reise eine weitere Waldschnepfe den Weg auf ihren Spieß fand, kehrte Jahn am zweiten Tag mit einem Burbur aus dem Dickicht zurück. Falk hatte diese großen, rattenähnlichen Säugetiere von der Größe eines Hundes noch nie gesehen, und die blasse, unbehaarte Haut des Säugers und der lange nackte Schwanz von der Dicke eines Fingers entlockten ihm ein angewidertes Keuchen. Jahn hackte der Kreatur den Kopf ab und spießte sie auf den Stock, um sie über dem Feuer zu braten, und am Ende obsiegte auch bei Falk der Hunger, und er schlang seine Portion gierig hinunter, überrascht, dass etwas, das so widerlich aussah, so munden konnte.
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