Zara starrte in die Glut und sah, wie die scharfe Messerklinge wieder zu glühen begann. Irgendwo im Hintergrund vernahm sie Jahns ruhigen, regelmäßigen Atem; sie nahm an, dass der junge Mann eingeschlafen war, und sie wünschte, sie könnte es ihm gleichtun.
Doch sie hatte noch etwas zu erledigen.
Zara wartete, bis die Klinge rot glühte. Dann schob sie ihr Hemd über die abgebrochene Pfeilspitze hoch, um die Wunde in ihrer linken Seite, zwei Handbreit unter ihrer Brust, zu entblößen. Dünne Blutfäden waren von der Wunde nach unten gelaufen wie Regen, rotbraune Schlieren auf Zaras porzellanweißer Haut. Ein Blick genügte, um Zara zu zeigen, dass diese Pfeilspitze ein ganzes Stück tiefer steckte. Nach einem letzten Schluck aus dem Krug zog Zara das Messer aus dem Feuer und setzte ohne Zögern zu einem tiefen Schnitt an.
Diesmal war der Schmerz so groß, dass Zara die Tränen in die Augen schossen. Er war so enorm und allumfassend, dass ihr Bewusstsein davon ausgeblasen wurde wie eine Kerze im Sturm. Sie spürte, wie sie der Welt entrückte, ihr Geist schien plötzlich kein Teil ihres Körpers mehr zu sein, und für einen Moment schoss ihr durch den Kopf, dass sich der Tod so ähnlich anfühlte – beruhigend, auf sonderbare Weise vertraut, wie ein Loslassen von Dingen, die eigentlich keine Bedeutung hatten. Trotzdem gelang es ihr irgendwie, die Pfeilspitze aus ihrer Seite zu ziehen, dann sank sie erschöpft zurück, am Ende ihrer Kraft. Bevor ihr Blick dunkel wurde, sah sie verschwommen das hagere Gesicht von Falk über sich auftauchen, besorgte Augen unter buschigen Brauen.
Ihr Leib gab der Erschöpfung nach, und Zara versank in tröstlicher Dunkelheit, wie ein Stein, der in den tiefen Wassern eines nächtlichen Sees versinkt.
Als Zara wieder zu sich kam, ging der Tag bereits in den Abend über. Die Sonne hing tief über den Wipfeln der Bäume, ein vages helles Rund jenseits des dichten Blätterdachs. Langsam krochen die Schatten aus dem Dickicht, und das Lagerfeuer flackerte fröhlich vor sich hin. Die Wärme der Flammen kroch über Zaras Gesicht, doch im ersten Moment vermochte sie nicht zu sagen, wo sie sich befand. Erschrocken schoss sie auf ihrem Lager hoch, als würde sie aus ihrem ewig wiederkehrenden Albtraum erwachen, die Hand automatisch auf dem Weg zum Knauf eines ihrer Schwerter. Sie zuckte zusammen, als aus Schenkel und Seite ein dumpfer Schmerz durch ihren Körper fuhr – keine siedende Pein wie in dem Moment, als sie die Pfeilspitzen aus ihrem Fleisch gerissen hatte, sondern ein eher unterschwelliger Schmerz, wie man ihn verspürt, wenn man eine Wunde im Mund hat und mit der Zungenspitze danach tastet, um zu erfahren, ob sie noch wehtut. Dennoch, angenehm war es nicht, und Zara ließ ein leises, nur halb unterdrücktes Stöhnen hören. Auf einmal war Falk bei ihr. „Nur ruhig“, sagte er und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Du darfst dich nicht anstrengen. Ruh dich aus und erhol dich. Du bist verletzt.“ Er wollte sie behutsam zurück auf das Deckenlager drücken, das er für sie neben der Feuerstelle hergerichtet hatte, doch Zara schüttelte seine Hand ab.
„Nur keine Umstände“, brummte sie. „Meine Wunden heilen schnell.“
„Das mag wohl sein“, sagte Falk. „Verbunden habe ich sie aber dennoch.“
Zara blickte stirnrunzelnd an sich herab und stellte fest, dass der Verband an ihrem Schenkel erneuert worden war, und auch um ihren Leib spannte sich mit sanftem Druck ein Verband aus Stoffstreifen und Heilkräutern.
Bevor sie dazu ein Wort verlieren konnte, erklang aus dem Unterholz mit einem Mal das verstohlene Knacken eines Zweigs, der unter einem Fuß zerbrach, und schlagartig war Zara hellwach. Doch im nächsten Moment beruhigte sie sich wieder, denn sie sah, wie Jahn aus den Büschen humpelte, in der Hand eine Waldschnepfe, deren langer bunter Hals leblos nach unten hing. Obwohl sich der junge Mann vorsichtig bewegte, sah er doch schon viel besser aus als am Vormittag, als Zara seine Wunden versorgt hatte. Die Schwellungen in seinem Gesicht waren bereits am Abklingen. Beim Gehen hielt er eine Hand behutsam gegen die Brust gedrückt, als müsste er seine Rippen an Ort und Stelle halten, doch er befand sich ohne Zweifel auf dem Wege der Besserung.
Als Jahn Zara sah, schenkte er ihr ein kleines, dankbares Lächeln. „Etwas zu essen“, verkündete er und hielt das Huhn an der Schlinge, mit der er das Tier gefangen hatte, in die Höhe wie eine Trophäe. „Nicht besonders viel dran, aber als Appetithappen reicht’s.“ Er ließ sich neben ihr nieder und begann, das Huhn zu rupfen. „Wir haben uns um Euch gesorgt“, sagte er ruhig.
Zara winkte ab. „Es geht schon wieder.“
Jahn lachte leise. „Nein, verglichen mit den Wunden, die Eure Gegner davongetragen haben, seid Ihr wahrlich gut davongekommen.“ Er verzog kurz das Gesicht, weil ihm beim Lachen die Rippen schmerzten. „Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde es nicht glauben. Eine Frau, die es allein mit einem halben Dutzend bewaffneter Halsabschneider aufnimmt – und triumphiert.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Ihr seid eine große Kriegerin, Zara.“
„Oh, das ist sie!“, bestätigte Falk eifrig. „Du hättest sehen sollen, wie sie mich in Hohenmut aus den Klauen einer Bande heimtückischer, blutgieriger Halunken gerettet hat. Die Kerle wollten mir aus unerfindlichen Gründen die Hand abhacken, und obwohl ich mich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Schurken zur Wehr setzte und mehrere von ihnen mit meinen eigenen Fäusten zu Boden schickte, ist es am Ende doch nur ihr zu verdanken, dass ich noch beide Hände habe – und das, ohne dass sie selbst zur Waffe gegriffen hätte.“ Er grinste. „Glaub mir, von dieser Schmach werden sich diese Schurken in tausend Jahren nicht erholen! Ist es nicht so, Zara?“ Er schaute sie fragend an, doch Zara rümpfte nur abfällig die Nase und schwieg.
„Ich bin sicher, es war ein denkwürdiges Bild“, sagte Jahn. Für einen Mann, der kaum älter war als Falk, wirkte er sehr abgeklärt und ruhig; Zara nahm an, dass er es gewohnt war, Verantwortung zu tragen. Er sah Zara von der Seite her an, und ein seltsamer Ausdruck trat in seinen Blick. „Mir scheint, als wärt Ihr nicht nur eine große Kriegerin, sondern zudem auch noch ein Mensch mit vielen lobenswerten Tugenden.“
„Zu viel der Ehre“, brummte Zara. „Tugenden bedeuten mir nichts, ebenso wenig wie Dank oder Ansehen. Ich tat, was erforderlich war, auch wenn ich einiges davon jetzt gern ungeschehen machen würde.“ Sie bedachte Falk mit einem galligen Blick, und der schaute verlegen zu Boden.
Jahn bemerkte die Spannungen zwischen den beiden, ging aber nicht darauf ein. „Wie auch immer“, sagte er, rupfte der Schnepfe ein weiteres Bündel Federn aus und warf sie neben sich auf den Boden. „Ich verdanke Euren Kampfkünsten mein Leben, und ich würde Euch meine Dankbarkeit gern durch mehr zeigen als nur durch bloße Worte. Doch alles Gold, das ich dank Euch noch bei mir trage, ist für einen anderen Zweck bestimmt.“ Er tätschelte den Lederbeutel an seinem Gürtel. Das leise Klimpern der Goldstücke darin klang süß und verlockend, und Falk hob sofort wieder den Blick.
Zara winkte ab. „Ich will dein Gold nicht. Wenn dem so wäre, hätte ich es mir einfach genommen.“
Jahn nickte. „Das ist mir bewusst. Allerdings gibt es für Euch vielleicht einen Weg, es auf ehrbare Weise zu erlangen.“ Jahn hatte das Huhn inzwischen komplett gerupft und griff nach dem Messer, das neben dem Feuer im Boden steckte, um das Tier aufzuschneiden und auszunehmen.
Falk war ganz Ohr. „Wie das?“
„Nun, es hat mich nicht zufällig in diese Gegend verschlagen“, erklärte Jahn bedächtig. „Der Bürgermeister von Moorbruch, dem Ort, aus dem ich stamme, hat mich mit einer wichtigen Aufgabe versehen.“ Er machte eine kleine Pause, um seine Gedanken zu sammeln. Dann fuhr er mit leiser, fast unheilvoller Stimme fort: „Ich bin auf dem Weg nach Hohenwall, um in der Stadt Jäger oder Söldner zu verpflichten, die eine grausame Bestie zur Strecke bringen sollen, die seit mehreren Wochen rings um Moorbruch ihr Unwesen treibt und bereits viele unserer Frauen und Kinder gemordet hat. Immer wieder wurden in den umliegenden Wäldern die verstümmelten Leichen unserer Liebsten gefunden, von jungen Frauen, die keiner Menschenseele je ein Leid getan haben. Wir haben versucht, das Untier auf eigene Faust zur Strecke zu bringen, doch ohne Erfolg, und da wir auch von unserem geliebten König Aarnum auf unser Hilfegesuch bislang keine Antwort erhalten haben, will ich Söldner oder professionelle Jäger verpflichten, die Bestie zu erlegen, bevor sie noch mehr Menschenleben fordert. Dafür ist das Gold bestimmt; wir sind einfache Leute, aber jeder hat gegeben, was er konnte, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Die Menschen in Moorbruch leben in Angst und Schrecken; nach Einbruch der Dunkelheit traut sich kaum jemand mehr nach draußen, so groß ist die Furcht, der Bestie zum Opfer zu fallen. Glaubt mir, Zara, die Menschen würden auf ewig in der Schuld desjenigen stehen, dem es gelingt, der Bestie den Garaus zu machen.“
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