»Stimmt es?«, sagte er. »Im ganzen Zug sagen sie, daß Harry Potter in diesem Abteil ist. Also du bist es?«
»Ja«, sagte Harry. Er sah die anderen Jungen an. Beide waren stämmig und wirkten ziemlich fies. Wie sie da zur Rechten und zur Linken des blassen Jungen standen, sahen sie aus wie seine Leibwächter.
»Oh, das ist Crabbe und das ist Goyle«, bemerkte der blasse Junge lässig, als er Harrys Blick folgte. »Und mein Name ist Malfoy. Draco Malfoy.«
Von Ron kam ein leichtes Husten, das sich anhörte wie ein verdruckstes Kichern.
Draco Malfoy sah ihn an.
»Meinst wohl, mein Name ist komisch, was? Wer du bist, muß man ja nicht erst fragen. Mein Vater hat mir gesagt, alle Weasleys haben rotes Haar, Sommersprossen und mehr Kinder, als sie sich leisten können.«
Er wandte sich wieder Harry zu.
»Du wirst bald feststellen, daß einige Zaubererfamilien viel besser sind als andere, Potter. Und du wirst dich doch nicht etwa mit der falschen Sorte abgeben. Ich könnte dir behilflich sein.«
Er streckte die Hand aus, doch Harry machte keine Anstalten, ihm die seine zu reichen.
»Ich denke, ich kann sehr gut selber entscheiden, wer zur falschen Sorte gehört«, sagte er kühl.
Draco Malfoy wurde nicht rot, doch ein Hauch Rosa erschien auf seinen blassen Wangen.
»Ich an deiner Stelle würde mich vorsehen, Potter«, sagte er langsam. »Wenn du nicht ein wenig höflicher bist, wird es dir genauso ergehen wie deinen Eltern. Die wußten auch nicht, was gut für sie war. Wenn du dich mit Gesindel wie den Weasleys und diesem Hagrid abgibst, wird das auf dich abfärben.«
Harry und Ron erhoben sich. Rons Gesicht war nun so rot wie sein Haar.
»Sag das noch mal«, sagte er.
»Oh, ihr wollt euch mit uns schlagen?«, höhnte Malfoy.
»Außer ihr verschwindet sofort«, sagte Harry, was mutiger klang, als er sich fühlte, denn Crabbe und Goyle waren viel kräftiger als er und Ron.
»Aber uns ist überhaupt nicht nach Gehen zumute, oder, Jungs? Wir haben alles aufgefuttert, was wir hatten, und bei euch gibt's offenbar noch was.«
Goyle griff nach den Schokofröschen neben Ron. Ron machte einen Sprung nach vorn, doch bevor er Goyle auch nur berührt hatte, entfuhr diesem ein fürchterlicher Schrei.
Krätze, die Ratte, baumelte von Goyles Zeigefinger herab, ihre scharfen kleinen Zähne tief in seine Knöchel versenkt – Crabbe und Malfoy wichen zur Seite, als der jaulende Goyle Krätze weit im Kreis herumschwang. Als Krätze schließlich wegflog und gegen das Fenster klatschte, verschwanden alle drei auf der Stelle. Vielleicht dachten sie, noch mehr Ratten würden zwischen den Süßigkeiten lauern, oder vielleicht hatten sie Schritte gehört, denn einen Augenblick später trat Hermine Granger ein.
»Was war hier los?«, sagte sie und blickte auf die Naschereien, die auf dem Boden verstreut lagen. Ron packte Krätze am Schwanz und hob ihn hoch.
»Ich denke, er ist k. o. gegangen«, sagte Ron zu Harry gewandt. Er besah sich Krätze näher. »Nein – doch nicht. Ist wohl wieder eingeschlafen.«
Und so war es.
»Hast du Malfoy schon einmal getroffen?«
Harry erzählte von ihrer Begegnung in der Winkelgasse.
»Ich hab von seiner Familie gehört«, sagte Ron in düsterem Ton. »Sie gehörten zu den Ersten, die auf unsere Seite zurückkehrten, nachdem Du-weißt-schon-wer verschwunden war. Sagten, sie seien verhext worden. Mein Dad glaubt nicht daran. Er sagt, Malfoys Vater brauchte keine Ausrede, um auf die dunkle Seite zu gehen.« Er wandte sich Hermine zu. »Können wir dir behilflich sein?«
»Ich schlage vor, ihr beeilt euch ein wenig und zieht eure Umhänge an. Ich war gerade vorn beim Lokführer, und er sagt, wir sind gleich da. Ihr habt euch nicht geschlagen, oder? Ihr kriegt noch Schwierigkeiten, bevor wir überhaupt da sind!«
»Krätze hat gekämpft, nicht wir«, sagte Ron und blickte sie finster an. »Würdest du bitte gehen, damit wir uns umziehen können?«
»Schon gut. Ich bin nur reingekommen, weil sich die Leute draußen einfach kindisch aufführen und ständig die Gänge auf und ab rennen«, sagte Hermine hochnäsig. »Und übrigens, du hast Dreck an der Nase, weißt du das?«
Unter dem zornfunkelnden Blick von Ron ging sie schließlich hinaus.
Harry sah aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Unter einem tief purpurrot gefärbten Himmel konnte er noch Berge und Wälder erkennen. Der Zug schien langsamer zu werden.
Die beiden legten die Jacken ab und zogen ihre langen schwarzen Umhänge an. Rons Umhang war ein wenig zu kurz für ihn, man konnte seine Trainingshosen darunter sehen.
Eine Stimme hallte durch den Zug:»In fünf Minuten kommen wir in Hogwarts an. Bitte lassen Sie Ihr Gepäck im Zug, es wird für Sie zur Schule gebracht.«
Harry spürte ein Ziehen im Magen und Ron sah unter seinen Sommersprossen ganz blaß aus. Sie stopften sich den letzten Rest Süßigkeiten in die Taschen und traten hinaus auf den Gang, der schon voller Schüler war.
Der Zug bremste und kam zum Stillstand. Alles drängelte sich durch die Tür und hinaus auf einen kleinen, dunklen Bahnsteig. Harry zitterte in der kalten Abendluft. Plötzlich erhob sich über ihren Köpfen der Schein einer Lampe und Harry hörte eine vertraute Stimme:»Erstkläßler! Erstkläßler hier rüber! Alles klar, Harry?«
Hagrids großes, haariges Gesicht strahlte ihm über das Meer von Köpfen hinweg entgegen.
»Nu mal los, mir nach – noch mehr Erstkläßler da? Paßt auf, wo ihr hintretet! Erstkläßler mir nach!«
Rutschend und stolpernd folgten sie Hagrid einen steilen, schmalen Pfad hinunter. Um sie her war es so dunkel, daß Harry vermutete, zu beiden Seiten müßten dichte Bäume stehen. Kaum jemand sprach ein Wort. Neville, der Junge, der immer seine Kröte verlor, schniefte hin und wieder.
»Augenblick noch, und ihr seht zum ersten Mal in eurem Leben Hogwarts«, rief Hagrid über die Schulter,»nur noch um diese Biegung hier.«
Es gab ein lautes »Oooooh!«.
Der enge Pfad war plötzlich zu Ende und sie standen am Ufer eines großen schwarzen Sees. Drüben auf der anderen Seite, auf der Spitze eines hohen Berges, die Fenster funkelnd im rabenschwarzen Himmel, thronte ein gewaltiges Schloß mit vielen Zinnen und Türmen.
»Nicht mehr als vier in einem Boot!«, rief Hagrid und deutete auf eine Flotte kleiner Boote, die am Ufer tümpelten. Harry und Ron sprangen in eines der Boote und ihnen hinterher Neville und Hermine.
»Alle drin?«, rief Hagrid, der ein Boot für sich allein hatte. »Nun denn – VORWÄRTS!«
Die kleinen Boote setzten sich gleichzeitig in Bewegung und glitten über den spiegelglatten See. Alle schwiegen und starrten hinauf zu dem großen Schloß. Es thronte dort oben, während sie sich dem Felsen näherten, auf dem es gebaut war.
»Köpfe runter«, rief Hagrid, als die ersten Boote den Felsen erreichten; sie duckten sich, und die kleinen Boote schienen durch einen Vorhang aus Efeu zu schweben, der sich direkt vor dem Felsen auftat. Sie glitten durch einen dunklen Tunnel, der sie anscheinend in die Tiefe unterhalb des Schlosses führte, bis sie eine Art unterirdischen Hafen erreichten und aus den Booten kletterten.
»He, du da! Ist das deine Kröte?«, rief Hagrid, der die Boote musterte, während die Kinder ausstiegen.
»Trevor!«, schrie Neville selig vor Glück und streckte die Hände aus. Dann stiefelten sie hinter Hagrids Lampe einen Felsgang empor und kamen schließlich auf einer weichen, feuchten Wiese im Schatten des Schlosses heraus.
Sie gingen eine lange Steintreppe hoch und versammelten sich vor dem riesigen Eichentor des Schlosses.
»Alle da? Du da, hast noch deine Kröte?«
Hagrid hob seine gewaltige Faust und klopfte dreimal an das Schloßtor.
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