Trotzdem verspürte Mike keine Angst um sich oder die anderen, sondern um Serena selbst. Und plötzlichtat er etwas Überraschendes -mit einer raschen Bewegung sprang er an Singh vorbei, lief im Zickzack zwischen Trautman und den anderen Jungen hindurch und näherte sich dem Mädchen. Er kam ihr nicht sehr weit entgegen, da fühlte er sich von der gleichen, unsichtbaren Gewalt wie all diese Männer hier gepackt und mit fürchterlicher Wucht zu Boden geschleudert. Hilflos rutschte er über das Deck, riß sich auf dem harten Metall Hände und Knie auf und prallte gegen eine Gestalt, die unmittelbar hinter ihm zu Boden gefallen war. Erst als er sich benommen aufzurichten versuchte und eine Hand auf der Schulter fühlte, erkannte er, daß es Winterfeld war. »Bist du verrückt geworden?« fuhr ihn Winterfeld an. »Willst du, daß sie dich umbringt?« Mike machte sich hastig los und versuchte erneut, auf Serena zuzulaufen, aber diesmal hielt ihn Winterfeld mit eiserner Hand zurück. »Lassen Sie mich los!« keuchte Mike. »Ich kann sie aufhalten! Sie wird auf mich hören!« »Fünfzig meiner Männer haben sie nicht aufhalten können!« Winterfeld schrie, um das Heulen des Sturmes zu übertönen. Trotzdem waren seine Worte kaum zu verstehen. »Und du willst mit ihr reden? Mach dich nicht lächerlich!« Aus den tobenden Regenschleiern kam eine Gestalt auf sie zu. Es war Singh. Winterfeld erkannte ihn im selben Moment, in dem der Sikh sah, wer Mike gepackt hielt, und obwohl rings um sie herum die Welt in Stücke brach, schienen die beiden Männer wild entschlossen, sich aufeinanderzustürzen. Und vielleicht hätten sie es sogar getan, wäre nicht in diesem Moment etwas geschehen, was sie selbst den Höllenstürm, die Todesgefahr und Serena für eine Sekunde vergessen ließ. Eine besonders heftige Sturmböe riß die Wolkenfront auseinander, und sie sahen, was dahinter herankam ... »O mein Gott!« flüsterte Winterfeld. Seine Augen wurden groß, und sein Gesicht verlor jegliche Farbe, und Mike spürte, wie sein Herzschlag stockte. Es war eine Welle. Aber es war nicht eine gewöhnliche Welle. Es war eine kompakte, glitzernde Wand aus Wasser, fünfzig, wenn nicht hundert Meter hoch und so breit, daß sie von einem Horizont zum anderen zu reichen schien. Und sich näherte sich dem Schiff mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Ein tiefes, ungeheuer machtvolles Dröhnen und Grollen mischte sich in das Brüllen des Sturmes, und sogar das Gewitter hielt für einen Moment inne, als fürchteten sich selbst die Naturgewalten vor den Kräften, die das Mädchen entfesselt hatte. »Festhalten!« brüllte Winterfeld, und sie fanden gerade noch Zeit, es zu tun, dann war die Welle heran und traf das Schiff. Mike hatte mit einem vernichtenden Schlag gerechnet, der die LEOPOLD einfach in Stücke riß oder vielleicht auch zur Gänze unter die Wasseroberfläche drückte, aber ganz im Gegenteil: Mike fühlte sich plötzlich leicht, und es war, als ob der Boden unter ihm wegsackte, statt sich aufzubäumen und ihn abzuschütteln wie ein bockendes Pferd seinen Reiter. Erst dann begriff er, daß die gigantische Woge das ganze Schiff gepackt und in die Höhe gehoben hatte! Er fand nicht einmal die Zeit, den Schrecken darüber wirklich zu spüren, da stürzte die LEOPOLD wie ein Berg aus Stahl ins Wasser zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde befand sich ihr Deck unter der Wasseroberfläche, aber noch ehe das Meer es überspülen konnte, da wurde das Schiff schon wieder in die Höhe gerissen und auf die Seite gedrückt, so schnell und so weit, daß aus dem Deck nahezu eine senkrechte Wand wurde. Mike schrie in Todesangst auf, während er auf die Reling zuschlitterte. Rings um ihn herum flogen Trümmer und schreiende Menschen durch die Luft, und die kochende Wasseroberfläche schien ihm regelrecht entgegenzuspringen. Im allerletzten Moment richtete sich das Schiff wieder auf. Mike rutschte noch ein Stück weiter, prallte gegen irgend etwas Hartes, Großes, das seinen Sturz endgültig abbremste, und blieb eine Sekunde mit geschlossenen Augen und wild klopfendem Herzen liegen, fest davon überzeugt, daß der Tod nun unausweichlich war. Als er es wagte, die Augen wieder zu öffnen, bot sich ihm ein Anblick des Chaos. Die ungeheure Erschütterung hatte nicht nur jeden Mann auf dem Deck von den Füßen gerissen, sondern auch enorme Zerstörungen angerichtet. Die Flammen im Heck der LEOPOLD waren erloschen, doch einer der großen Geschütztürme war abgerissen und verschwunden, und die Kommandobrücke stand plötzlich schräg da, als wäre sie vom Fußtritt eines zornigen Riesen getroffen worden. Etliche der Männer, die zusammen mit Winterfeld nach oben gekommen waren, hatte das Wasser über Bord gespült, viele lagen stöhnend am Boden, und einige regten sich nicht mehr. Mike fuhr herum und suchte nach den anderen. Er entdeckte Juan und Chris ganz in der Nähe, beide schreckensbleich und zitternd aneinandergeklammert, aber offensichtlich unverletzt. Und zu seiner großen Erleichterung gewahrte er jetzt auch Ben, André und schließlich sogar Trautman, Arronax und den Sikh. Hastig sprang Mike auf und eilte zu Trautman, der sich in diesem Moment ebenfalls erhob; benommen, aber bis auf ein paar kleine Kratzer und Schrammen ebenfalls unversehrt. Als er ihn erreichte, sah er, wie sich Winterfeld kaum einen Meter entfernt stöhnend auf die Knie erhob und Trautman etwas völligÜberraschendes tat. Er trat zu Winterfeld, ergriff ihn am Arm und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck vollends auf die Füße. »Großer Gott!« stammelte Winterfeld. »Sie ... sie vernichtet das Schiff! Sie wird uns alle töten!« Verzweifelt sah er sich nach Serena um, und als Mike in die gleiche Richtung schaute, entdeckte er das Mädchen an genau der Stelle, an der sie vor der Katastrophe gestanden hatte. Der Zorn auf ihrem Gesicht loderte noch immer so heiß wie zuvor, und Mike mußte nur einen einzigen Blick in ihre Augen werfen, um zu wissen, daß es noch immer nicht vorbei war. Winterfeld hatte recht. Serena würde nicht aufhören, ehe dieses Schiff und jede Seele an Bord vernichtet war. »Bringen Sie sich in Sicherheit!« sagte Winterfeld plötzlich. »Die NAUTILUS ist fahrbereit! Meine Ingenieure haben die Schäden repariert. Nehmen Sie die Jungen und Arronax' Leute an Bord und tauchen Sie! Eine zweite Woge hält die LEOPOLD nicht aus.« Trautman wirkte nicht überrascht - Mike war sicher, daß er genau diesen Vorschlag von Winterfeld erwartet hatte. »Wir werden bleiben, solange wir können«, sagte er. »Die NAUTILUS ist nicht groß genug, um alle Ihre Männer aufzunehmen, aber -« »Ich fürchte, dazu bleibt Ihnen keine Zeit«, sagte Winterfeld leise. »Schauen Sie.« Seine ausgestreckte Hand wies nach Norden, und Mike wußte, was er sehen würde, noch bevor er sich herumdrehte und ebenfalls dorthin blickte. Am Horizont, noch weit, unendlich weit entfernt, entstand eine dünne, glitzernde Linie, nicht mehr als ein Strich aus unterbrochenem Silber, der sich von dem Schwarz der Gewitterwolken abhob. Aber sie wußten alle, was es bedeutete. Es war eine zweite, wahrscheinlich noch gigantischere Welle, die das Schiff diesmal unweigerlich zerschmettern mußte. Sie rannten los. Als sie die Reling erreichten, war aus dem dünnen Strich am Horizont eine fingerbreite Linie geworden, und Mike glaubte bereits wieder jenes unheimliche Grollen und Rumoren zu hören, das das Nahen der Riesenwoge ankündigte. Die NAUTILUS lag unter ihnen. Zwei der vier armstarken Seile, mit denen sie an der LEOPOLD vertäut war, waren gerissen, aber das Schiff wies zumindest äußerlich keine Beschädigungen auf, und selbst die Strickleiter, die von der Reling zum Turm des Tauchbootes hinunterführte, war noch da. Juan und Ben stiegen unverzüglich hinab, während Singh Chris auf die Arme nahm und wartete, bis er an der Reihe war. Es würde knapp werden. Selbst wenn die Maschinen der NAUTILUS wieder tadellos funktionierten, wußte Mike, daß sie eine, wenn nicht zwei Minuten brauchen würden, um das Schiff zu tauchen, und er war nicht sicher, daß ihnen noch so viel Zeit blieb. Trotzdem versuchte er ein letztes Mal, Trautman zu überzeugen. »Wir können Serena nicht einfach hierlassen!« flehte er. »Sie wird sterben!« »Das wird sie«, antwortete Trautman ernst. »Aber es gibt nichts, was du für sie tun könntest. Sie würde auch dich töten, wenn du es versuchtest.« Mike wußte, daß genau das geschehen würde, sollte er Serena auch nur in die Nähe kommen. Der Tod des Katers hatte das Mädchen offenbar um den Verstand gebracht. Sie war so rasend vor Zorn, daß sie keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind machte, und vielleicht konnte sie das auch gar nicht mehr. Möglicherweise, dachte Mike schaudernd, hatten sie alle das Wort Wächter falsch verstanden, und Astaroths Aufgabe war es gar nicht gewesen, Serena vor der Welt zu schützen, sondern die Welt vor Serena. Aber diese Erkenntnis kam etwas zu spät. Juan und Ben hatten die NAUTILUS erreicht und verschwanden bereits in der Turmluke, und als nächster machte sich Singh auf die kurze, aber lebensgefährliche Kletterpartie. Mike sah rasch nach Norden. Die Wasserwand war näher gekommen, und was bisher nur ein Verdacht gewesen war, wurde jetzt zur Gewißheit: sie war um vieles größer als die erste Woge. »Das ist das Ende«, flüsterte Trautman. »Hoffentlich schaffen es Arronax und seine Leute.« Er deutete auf die Strickleiter, und Mike streckte gehorsam die Hände nach der Reling aus, um sich darüberzuschwingen. Als er das Metall berührte, schoß ein grausamer Schmerz durch seine Seite. Mike krümmte sich. Für eine Sekunde sah er nichts als Rot und Flammen. Es war, als hätte ein weißglühender Speer seine Hüfte getroffen, und der Schmerz war so entsetzlich, daß er nicht einmal schreien konnte; schlimmer als alles, was er jemals zuvor gespürt hatte. Wimmernd sank er auf die Knie und blickte an sich herab, überzeugt, eine grauenhafte Wunde zu sehen, die er sich bei seinem Sturz zugezogen und bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte. Aber er war völlig unversehrt. »Was ist mit dir?« fragte Trautman erschrocken. »Hast du dich verletzt?« Mike hörte die Worte kaum. Er bekam noch immer keine Luft, und spürte, wie er das Bewußtsein zu verlieren begann. Alles drehte sich um ihn. Er fühlte eine Pein wie nie zuvor im Leben, einen Schmerz, der ...
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