Mike senkte den Blick und begegnete dem Glühen von Astaroths einzigem Auge, das ihn unter dem Tisch hervor fixierte.
»Wie meinst du das?« fragte er laut. Die anderen sahen nur kurz auf und wandten sich dann wieder ihrem Essen oder ihrer Unterhaltung zu. Sie hatten sich längst daran gewöhnt, Zeugen dieser einseitigen Gespräche zwischen Mike und dem Kater zu sein. Und mit Ausnahme Bens, der sich dann und wann eine spitze Bemerkung nicht ganz verkneifen konnte, hatten sie es auch akzeptiert.
Was ich meine, ist, daß du wieder einmal einen typisch menschlichen Fehler begehst, antwortete Astaroth. Du setzt einfach voraus, daß die Dinge so sind, wie du sie sehen willst, statt die Dinge so zu sehen, wie sie sind. »Aha«, sagte Mike. Er war nie ganz sicher, ob er Astaroths manchmal purzelbaumschlagender Kater-Logik immer ganz zu folgen vermochte. »Ich verstehe. «
Nein, das tust du nicht, behauptete Astaroth. Weil ihr Menschen nie etwas versteht. Ihr behauptet nur, alles zu verstehen, und das so hartnäckig, bis ihr es am Ende selbst glaubt. Darin seid ihr allerdings ungeschlagene Meister.
»Komm zur Sache, Astaroth«, sagte Mike. Ihm stand im Moment nicht der Sinn nach Diskussionen mit Astaroth über dieses Thema. Der Kater kannte nämlich kein größeres Vergnügen, als in endlosen Monologen zu erklären, daß eigentlich die Feliden die wahren Herren dieser Welt seien und nicht der Homo sapiens. Und so interessant dieses Thema vielleicht sein mochte dummerweise war Mike der einzige an Bord der NAU-TILUS, der den Kater verstehen konnte. Genau das meine ich, sagte Astaroth, der selbstverständlich auch diesen Gedanken gelesen hatte. Ihr weigert euch einfach, das Offensichtliche zu begreifen, wenn es euch nicht paßt. Nimm nur deine Beobachtung: Du glaubst, eine zehn Meter große Fledermaus gesehen zu haben.
»Hm«, machte Mike. Er zog es vor, nicht laut darauf zu antworten. Manchmal war es ganz praktisch, daß die anderen die telepathische Stimme des Katers nicht verstehen konnten.
Und weil du weiter weißt -oder zu wissen glaubst -, daß es keine zehn Meter großen Fledermäuse gibt, kommst du zu dem messerscharfen Schluß, daß du dich geirrt haben mußt, nicht wahr? Bist du schon einmal auf die Idee gekommen, daß es vielleicht etwas war, was du noch nie gesehen hast?
Natürlich war Mike schon von sich aus zu diesem Schluß gekommen. Aber es gab eine ganze Menge, was dagegensprach: zum Beispiel der Umstand, daß außerhalb der NAUTILUS Temperaturen herrschten, die ihre Thermometer nicht einmal mehr anzeigten. Dort draußen konnte nichts Lebendiges auf Dauer existieren.
Nichts, was ihr kennt, widersprach Astaroth. Er gähnte, wobei er Mike einen Blick auf zwei Reihen nadelspitzer Zähne gewährte. Etwas Kleines, Schwarzes wuselte unter seinem Kinn hindurch und begann an Mikes Bein emporzuklettern. Mike streckte die Hand aus und hob das Katzenjunge hoch, bedauerte das aber gleich darauf wieder. Seine drei Geschwister folgten ihm nämlich sofort, und nur einen Moment später gesellte sich auch noch Isis hinzu, so daß er seinen Schoß plötzlich von gleich fünf Katzen belagert fand, von denen vier auf der Stelle herumzubalgen begannen, was das Zeug hielt. An Essen war jetzt nicht mehr zu denken, aber Mike hatte ohnehin keinen Appetit mehr, und außerdem lieferte ihm der Katzenüberfall einen willkommenen Anlaß, irgendwelchen weiteren Gesprächen mit Trautman und den anderen auszuweichen. Er beschäftigte sich noch einige Minuten lang damit, mit den vier kleinen Rackern zu spielen, dann setzte er sie nacheinander sehr behutsam zu Boden und stand auf. »Ich gehe in meine Kabine«, sagte er. »Ich friere immer noch. Ich glaube, ich lege mich eine Stunde hin und versuche mich aufzuwärmen. «
Trautman sah ihn überrascht an. Es war überhaupt nicht Mikes Art, sich tagsüber ins Bett zu legen, aber er ahnte wohl auch, daß dies nur ein Vorwand für ihn war, um eine Weile allein zu sein, denn er sagte nichts, sondern nickte nur. Mike verließ den Salon und lief die kurze Treppe in den vorderen Teil der NAUTILUS hinab, wo seine Kabine lag.
Als er die Tür hinter sich schließen wollte, huschte ein schwarzer Schatten zu ihm herein und war mit einem Satz auf seinem Bett, wo er sich zu einem Ball zusammenrollte
- selbstverständlich mitten auf dem Kopfkissen. Mike sah den Kater forschend an, doch Astaroths lautlose Stimme schwieg jetzt, und gleich darauf bewiesen die regelmäßig werdenen Atemzüge und ein hörbares Schnarchen, daß der Kater eingeschlafen war. Er hatte ihn wohl nur begleitet, um ebenfalls eine Weile seine Ruhe zu haben. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen hatte sich Astaroth als sorgender und sehr geduldiger Vater herausgestellt, aber die vier kleinen Burschen waren manchmal eine richtige Plage. Mike konnte Astaroth gut verstehen.
Er sah sich gerade nach einem anderen Sitzplatz um, als es an der Tür klopfte. Er öffnete sie. Draußen auf dem Gang stand Ben. »Darf ich reinkommen?« fragte er. Mike nickte, aber Ben trat erst an ihm vorbei, als Mike einen Schritt zur Seite machte und seine Einladung mit einer entsprechenden Handbewegung unterstrich. So phantastisch und bequem die NAUTILUS auch sein mochte, eines war an Bord so kostbar wie auf jedem Schiff: die Privatsphäre. Keiner von ihnen hätte es gewagt, die Kabine eines anderen ohne dessen ausdrückliches Einverständnis zu betreten; auch Ben nicht, der sonst vor sehr wenigen Dingen Respekt zeigte. »Tut mir leid, wenn ich dich störe«, begann Ben, und das verwunderte Mike. Ben entschuldigte sich nämlich so gut wie nie für irgend etwas -schon gar nicht, wenn es im Grunde gar nichts zu entschuldigen gab. Mike winkte ab. »Schon gut. Was gibt's?« »Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete Ben.
Er grinste und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Eine Fledermaus, wie? Hat Astaroth das auch gesagt?«
Mike schluckte die ärgerliche Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. »Er war nicht mit draußen«, erinnerte er Ben. »Wie könnte er also etwas bestätigen, was er gar nicht gesehen hat?«
»Stimmt«, sagte Ben. Sein Blick wanderte zwischen Mike und dem Kater hin und her, und jetzt wirkte er eindeutig verlegen. »Andererseits sagst du doch immer
selbst, daß er deine Gedanken lesen kann. Vielleicht hat er deiner Erinnerung ja ein bißchen auf die Sprünge geholfen. Du hast vorhin mit ihm gesprochen. Beim Essen. Stimmt's?«
»Und wenn?« fragte Mike. Seine Geduld neigte sich nun dem Ende zu. »Was ist los? Du bist doch nicht nur gekommen, weil dir langweilig ist, oder?« »Nein«, gestand Ben. Er sah sich suchend um und setzte sich schließlich auf den einzigen Stuhl, den es in der Kabine gab. Das Bett wäre weitaus bequemer gewesen, aber Mike hatte das sichere Gefühl, daß Ben die Nähe des Katers scheute. »Also um ehrlich zu sein -ich... ich wollte dich schon lange etwas fragen. Vielleicht ist die Gelegenheit nicht so ideal, aber vorhin, als ich gesehen habe, wie du mit Astaroth gesprochen hast -« Er brach ab, blickte wieder kurz den Kater an und begann nervös mit den Füßen zu scharren. Mike hatte ihn selten so verlegen und nach den richtigten Worten ringend wie jetzt gesehen.
»Glaubst du, daß... daß ich das auch könnte?« fragte Ben
plötzlich übergangslos. Mike blinzelte. »Was?«
»Ich meine, glaubst du, daß er auch mit mir reden würde. So wie mit dir?« Es war Ben anzusehen, wie schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen. Mike war vollkommen überrascht. Daß er und der Kater in Gedanken miteinander kommunizieren konnten, war allen an Bord immer ein bißchen unheimlich gewesen, aber sie hatten es schließlich akzeptiert. Daß nun gerade Ben diese Frage stellte, damit hatte er wirklich nicht gerechnet.
Der einäugige Kater war nämlich keineswegs das, wonach er aussah: ein ganz normaler, wenn auch ein bißchen großgeratener Kater. Mike hatte ihn vor nunmehr fast einem Jahr in einer Kuppel auf dem Meeresboden gefunden, zusammen mit dem Mädchen Serena, von der sie damals noch nicht gewußt hatten, daß sie die letzte überlebende Atlanterin war. Serena hatte in einem gläsernen Sarg gelegen, in dem sie etwa zehntausend Jahre lang geschlafen hatte, und Astaroth war ihr Wächter gewesen.
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