Ihr Gesicht!
Mike kam nicht mehr dazu, den abgrundtiefen Schrecken wirklich zu spüren, mit dem ihn der Anblick dieses Gesichtes erfüllte, denn in diesem Moment knallte sein Hinterkopf mit solcher Wucht gegen den Lukendeckel, dass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor. Hilflos stürzte er ins Wasser und sank wie ein Stein in die Tiefe.
Ganz besinnungslos konnte er wohl doch nicht gewesen sein, denn er erinnerte sich hinterher vage, wie er an die Oberfläche gekommen war -allerdings war er nicht ganz sicher, ob er sich nun wirklich erinnerte, oder ob das, woran er sich zu erinnern glaubte, vielleicht nicht doch so etwas wie eine Halluzination gewesen war ...
Bizarr genug dazu war es jedenfalls. Mike fand sich nun zum dritten Mal, seit sie auf diese Insel gekommen waren, keuchend, und Wasser erbrechend und verzweifelt nach Luft ringend, am Strand liegend vor, als sein Bewusstsein endlich wieder ganz erwachte. Sein Kopf schmerzte heftig und er musste wohl nicht nur einen guten Teil der Karibik hinuntergeschluckt haben, sondern auch noch ein paar Liter von seinem eigenen Blut, denn er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und musste mit aller Macht an sich halten, um sich nicht zu übergeben. Rings um ihn herum war ein wirres Durcheinander von Stimmen und Geräuschen und als er endlich die Augen öffnete, sah er in ein vertrautes Gesicht. Wenn auch vielleicht nicht in eines, das er in diesem Augenblick unbedingt gerne gesehen hätte ... »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Argos. Er hatte sich über ihn gebeugt und trotz seines miserablen Zustandes registrierte Mike sehr wohl, dass die Eingeborenen respektvoll vor dem Atlanter zurückgewichen waren. »Nein«, würgte Mike mühsam hervor. »Nicht wenn man aufwacht und Sie sieht.« Argos runzelte flüchtig die Stirn, aber dann lächelte er plötzlich. »Ich schätze, du bist wieder ganz der Alte«, sagte er säuerlich. »Wie fühlst du dich? Bist du verletzt?« Mike war nicht ganz sicher. Er erinnerte sich schwach, mit dem Kopf gegen irgendetwas geprallt zu sein, und dann ... Nein. Das war zu fantastisch. Das konnte keine wirkliche Erinnerung sein, sondern wohl doch so etwas wie eine Halluzination. Man sagte ja, dass Menschen im Augenblick ihres nahenden Todes sich die verrücktesten Dinge einbildeten. Und er war dem Tod nahe gekommen. Als er nicht antwortete, wurde Argos' Miene düster und seine Stimme verlor eine Menge von ihrer Freund
lichkeit. »Was ist nur in dich gefahren, mitten in der Nacht und noch dazu bei Flut hierher zu kommen? Wolltest du dich umbringen?« »Argos -bitte!« Mike atmete innerlich auf, als er Trautmans Stimme hörte und Argos sich herumdrehte, ohne auf eine Antwort auf seine Frage zu warten. Wahrscheinlich würde ihn auch Trautman gleich mit Vorwürfen nur so überschütten, aber das war ihm im Moment hundertmal lieber, als sich weiter mit dem Atlanter zu unterhalten. Unsicher stemmte er sich auf die Ellbogen hoch und wollte aufstehen, spürte aber, dass ihm dazu im Moment wohl noch die Kraft fehlte, und beließ es dabei, sich halbwegs aufzusetzen. Alles drehte sich um ihn und seine Lungen brannten noch immer wie Feuer. Auch wenn er sich nicht wirklich erinnerte, was passiert war, eines war klar: Er war dicht davor gewesen, zu ertrinken. Argos trat einen Schritt zurück, um Platz für Trautman und -wie Mike erleichtert feststellte -auch die restlichen Besatzungsmitglieder der NAUTILUS zu machen, die herangestürmt kamen, und setzte zugleich zu einer scharfen Antwort an, doch Trautman ließ ihn gar nicht zu Wortkommen, »Was ist hier passiert?«, fragte er. »Mike? Was ist los?« »Ihr junger Freund hat gerade versucht, sich umzubringen«, antwortete Argos düster. »Vielleicht war er auch nur der Meinung, dass uns langweilig ist und wir eine kleine Abwechslung gebrauchen können.« Trautman ignorierte ihn, eilte an ihm vorbei und blieb dicht vor Mike stehen. Sein Gesichtsausdruck war sehr besorgt, aber auch erleichtert. »Was war los?«, fragte er noch einmal. »Was tust du hier, mitten in der Nacht, und was -« Er sprach nicht weiter. Seine Augen wurden groß und sein Unterkiefer klappte fassungslos herunter. Mike konnte sehen, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich,
während sich sein Blick auf einen Punkt irgendwo hinter ihm richtete. Er musste sich nicht eigens herumdrehen, um zu wissen, was Trautman in solch fassungsloses Erstaunen versetzte. Er hatte die NAUTILUS entdeckt. »Aber das ist doch ...« »Deshalb war ich hier«, sagte Mike. Das Sprechen bereitete ihm Mühe und er hatte immer noch Schwierigkeiten, richtig zu atmen. »Ich bin zufallig hergekommen, aber dann habe ich das Schiff gesehen.« »Aber wie ist das möglich?«, murmelte Trautman. »Was ist möglich?«, fragte Argos misstrauisch. »Aber sehen Sie es denn nicht?«, sagte Ben. Mittlerweile hatten alle -bis auf Argos anscheinend -gesehen, was mit der NAUTILUS passiert war, und der Anblick schien sie so sehr zu überraschen, dass sie für einen Moment selbst ihre Sorge um Mike vergaßen. »Die NAUTILUS! Sie ist aufgetaucht!« »Natürlich ist sie aufgetaucht«, antwortete Argos. »Die Pumpen scheinen zu funktionieren. Was ist daran so sensationell?« »Es ging viel zu schnell!«, antwortete Trautman. Plötzlich war er sehr aufgeregt. »Das ist völlig unmöglich! Um das Schiff so weit zu heben, hätte es zwei oder drei Tage gebraucht. Mindestens!« Er wandte sich an Mike. »Was ist passiert? Du warst hier, als sie aufgetaucht ist?« Mike schüttelte den Kopf, versuchte noch einmal aufzustehen und schaffte es diesmal; wenn auch erst, nachdem Trautman die Hand ausstreckte und ihn stützte. »Nein. Es war schon alles so, als ich herkam. Ich habe das Boot genommen und bin rübergerudert -«
Und den Rest der Geschichte würde ich für mich behalten, sagte eine Stimme in seinen Gedanken. »Aber wieso?«, murmelte Mike verblüfft. Trautman blinzelte. »Wieso was?« Glaub mir, es ist besser so, fuhr Astaroths lautlose Gedankenstimme fort. Wenigstens für den Moment.
»Wieso ... äh ... ich meine, ich weiß nicht, wieso das Schiff aufgetaucht ist«, sagte Mike stockend. Trautman sah ihn misstrauisch an, dann trat er einen Schritt vor, streckte die Hand aus und berührte Mikes Hinterkopf. Als er die Finger wieder zurückzog, glänzte hellrotes Blut auf seinen Fingerspitzen. »Du bist ja verletzt!«, sagte er erschrocken. »Du hast dir den Kopf angeschlagen! Kein Wunder, dass du dich nicht erinnerst.« Mike winkte ab. »Das ist nichts«, sagte er. »Ich war ungeschickt und bin ausgerutscht -« »-und wärst um ein Haar ertrunken«, fiel ihm Trautman ins Wort. »Das war sehr leichtsinnig von dir, Mike. Und dass du dich nicht genau erinnerst, was überhaupt passiert ist, beweist, dass es etwas mehr als nichts ist, meinst du nicht auch?« »Wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung«, pflichtete ihm Chris bei. »Mit so was ist nicht zu spaßen.« »Ach was«, sagte Mike, wurde aber sofort wieder von Trautman unterbrochen: »Chris hat vollkommen Recht. Du gehst ins Dorf zurück und legst dich hin. Serena wird kann dir einen Verband machen. Ich sehe mir das später genau an.«
Natürlich war an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Serena versorgte seine Wunde, so gut es ging, und die anderen ließen ihn gerade lange genug in Ruhe, dass sie sicher sein konnten, dass Trautmann nicht in der Nähe war, um sie zur Ordnung zu rufen, ehe sie ihn mit Fragen auch nur so bestürmten. Fragen allerdings, auf die Mike kaum eine Antwort hatte. Er wusste ja selbst nicht genau, was er an Bord der NAUTILUS nun wirklich erlebt hatte. Irgendjemand war dort gewesen, das stand fest, aber wer oder gar warum, darüber wagte er nicht einmal eine Vermutung anzustellen. Möglicherweise hatte Trautman ja Recht und er hatte sich den Kopf tatsächlich fester angestoßen, als er zugab. Außerdem wäre er um ein Haar ertrunken und in solchen Momenten neigt die menschliche Fantasie nur zu schnell dazu, einem die bösesten Streiche zu spielen. Ein Mensch mit dem Gesicht eines -
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