»Ja«, sagte Joshua, »Abner, ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«
»Wie bitte?« Marsh war völlig entgeistert. »Sie können nicht weg!«
»Ich muß, Abner. Man hat mich gesehen, wem immer diese Plantage gehört. Ich habe auch eine vage Erinnerung daran, daß mich ein Arzt behandelt hat. Morgen bin ich wieder geheilt. Was werden die Leute dann denken?«
»Was denken die erst, wenn sie Ihnen das Frühstück bringen und Sie gar nicht da sind?« hielt Marsh ihm entgegen.
»Zweifellos werden sie verwirrt reagieren, aber dafür lassen sich sehr viel einfacher passende Erklärungen finden. Sie werden genauso entsetzt reagieren wie Sie, Abner. Erklären Sie ihnen, ich sei im Fieberwahn davongelaufen. Niemand wird mich jemals finden.«
»Valerie ist tot«, sagte Marsh.
»Ja«, sagte Joshua. »Draußen steht ein Wagen mit einem Sarg. Ich dachte mir schon, daß er für sie gedacht ist.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe versagt. Ich habe mein ganzes Volk verraten, habe es ins Unglück gestürzt. Wir hätten sie niemals mitnehmen dürfen.«
»Sie hatte ihre Wahl getroffen«, wandte Marsh ein. »Wenigstens hat sie sich von ihm befreien können.«
»Frei«, sagte Joshua York bitter. »Ist das die Freiheit, die ich meinem Volk bringe? Ein trauriges Geschenk. Eine Zeitlang, ehe Damon Julian in mein Leben trat, wagte ich sogar zu träumen, daß Valerie und ich eines Tages vielleicht ein Paar werden könnten. Nicht nach Art meines Volkes, füreinander entflammt durch den Ruf des Blutes, sondern mit einer Leidenschaft füreinander, geboren aus Zärtlichkeit und Zuneigung und gegenseitiger Hingabe und Sehnsucht zueinander. Wir haben darüber gesprochen.« Sein Mund verzog sich traurig. »Sie hat an mich geglaubt. Und ich habe sie getötet.«
»Einen Teufel haben Sie«, widersprach Marsh. »Am Ende sagte sie, daß sie Sie liebte. Sie mußte ja nicht mit uns kommen. Sie wollte es so. Wir alle müssen uns entscheiden, haben Sie mal selbst gesagt. Ich glaube, sie hat die richtige Wahl getroffen. Sie war eine ungemein schöne Lady.«
Joshua York erschauerte. »In Schönheit wandelt sie wie wolkenlose Sternennacht«, sagte er leise und starrte auf die geballten Fäuste. »Manchmal frage ich mich, ob es irgendeine Stunde gibt, da meine Rasse in Ruhe leben kann, Abner. Die Nächte sind voller Blut und Schrecken, aber die Tage sind gnadenlos.«
»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Marsh.
Joshua biß die Zähne zusammen. »Zurück.«
Marsh schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht!«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Sie sind doch gerade erst von dort geflohen«, sagte Marsh hitzig. »Nach allem, was wir auf uns genommen haben, um von dort zu verschwinden, können Sie nicht einfach aufstehen und wieder zurückgehen. Warten Sie ab! Verstecken Sie sich im Wald oder sonstwo, gehen Sie in irgendeine Stadt. Ich werde auch irgendwann von hier verschwinden, und dann treffen wir uns und schmieden Pläne, wie wir das Dampfschiff zurückerobern.«
»Schon wieder?« Joshua schüttelte den Kopf. »Es gibt da eine Geschichte, die ich Ihnen noch nicht erzählt habe, Abner. Es passierte vor langer Zeit, während meiner ersten Monate in England, als mich der rote Durst noch regelmäßig überkam und mich hinaustrieb auf die Suche nach Blut. Eines Abends hatte ich mich dagegen gewehrt und verloren, und ich schlich durstig durch die mitternächtlichen Straßen. Ich traf ein Pärchen, einen Mann und eine Frau, die eilig irgendwohin unterwegs waren. Meine Gewohnheit war, solche Beute aus Sicherheitsgründen entkommen zu lassen und nur jene anzugreifen, die allein waren. Aber der Durst hatte mich schrecklich gepackt, und selbst auf diese Entfernung konnte ich sehen, daß die Frau sehr schön war. Sie zog mich an, wie eine Flamme die Motten anlockt, und ich näherte mich ihr. Ich griff aus der Dunkelheit an, legte die Hände um den Hals des Mannes und riß ihm die halbe Kehle weg, wie ich annahm. Dann stieß ich ihn beiseite, und er fiel. Es war ein großer Mann. Ich nahm die Frau in die Arme und beugte mich sanft mit den Zähnen zu ihrem Hals hinunter. Meine Augen fixierten sie, versetzten sie in einen Trancezustand. Ich hatte gerade den ersten heißen süßen Schwall Blut geschmeckt, als ich von hinten erfaßt und von ihr weggerissen wurde. Es war der Mann, ihr Begleiter. Ich hatte ihn überhaupt nicht getötet. Sein Hals war kräftig und dick von Muskeln und Fett, und als ich ihn aufriß, blutete er heftig, aber er war noch immer auf den Beinen. Er sagte kein Wort. Er hob einfach die Fäuste wie ein Preisboxer und schlug mir mitten ins Gesicht. Er war ziemlich stark. Der Schlag betäubte mich und führte zu einer Platzwunde über dem Auge. Ich war bereits reichlich abgelenkt. So von seinem Opfer weggerissen zu werden, ist ein widerwärtiges Gefühl, macht einen benommen und durcheinander. Der Mann schlug mich erneut, und ich versetzte ihm einen brutalen Hieb. Er brach zusammen, hatte lange Risse in seiner Wange, und eines der Augen hing ihm halb aus dem Schädel. Ich wandte mich wieder der Frau zu und preßte den Mund auf die offene Wunde. Und dann stürzte er sich erneut auf mich. Ich riß seinen Arm von mir los und fetzte ihn fast aus dem Gelenk, und dann brach ich ihm noch schnell mit einem Tritt das Bein — als Denkzettel sozusagen. Er brach zusammen. Diesmal beobachtete ich ihn. Mühsam raffte er sich wieder auf, hob die Fäuste kampfbereit und kam auf mich zu. Zweimal noch schlug ich ihn nieder, und zweimal erhob er sich wieder. Schließlich brach ich ihm das Genick, und er starb, und dann tötete ich seine Frau.
Anschließend konnte ich ihn nicht vergessen. Er mußte gewußt haben, daß ich nicht ganz menschlich war. Er mußte erkannt haben, so stark er auch war, daß er gegen meine Kraft nichts ausrichten konnte, gegen meine Schnelligkeit, meinen Durst. Ich war abgelenkt durch meine Gier und durch die Schönheit seiner Gefährtin, und ich tötete nicht auf Anhieb. Er hätte verschont werden können. Er hätte weglaufen können. Er hätte auch um Hilfe rufen können. Er hätte sich sogar wegschleichen und irgendwo eine Waffe besorgen können. Aber er tat es nicht. Er sah die Frau in meinen Armen, sah, wie ich ihr Blut trank, und er konnte an nichts anderes denken als daran, aufzustehen und sich mit seinen großen dummen Fäusten auf mich zu stürzen. Als ich Zeit zum Nachdenken fand, ertappte ich mich dabei, wie ich seine Kraft, seinen wahnwitzigen Mut und die Liebe, die er für diese Frau empfunden haben mußte, zutiefst bewunderte.
Aber, Abner, trotz allem war er dumm. Er rettete weder seine Lady noch sich selbst.
Und Sie erinnern mich an diesen Mann, Abner. Julian hat Ihnen die Fiebertraum weggenommen, und Sie können an nichts anderes denken, als sie sich zurückzuholen; daher stehen Sie auf, nehmen die Fäuste hoch und greifen an, und Julian trifft Sie und schickt Sie wieder zu Boden. Eines Tages werden Sie nicht mehr aufstehen können, wenn Sie Ihre Angriffe fortsetzen. Abner, geben Sie auf!«
»Was, zum Teufel, reden Sie da?« fragte Marsh wütend. »Es sind Julian und seine Vampire, die sich jetzt in acht nehmen müssen. Dieser gottverdammte Dampfer fährt ohne Lotsen nirgendwo mehr hin.«
»Ich kann sie steuern«, meinte Joshua York.
»Und werden Sie das tun?«
»Ja.«
Marsh fühlte sich krank und wie zerschlagen vor Wut über diesen Verrat. »Warum?« wollte er wissen. »Joshua, Sie sind doch gar nicht wie die anderen!«
»Doch, das bin ich, wenn ich nicht zurückkehre«, erklärte York ernst. »Wenn ich nicht mein Elixier habe, dann wird der Durst mich wieder heimsuchen, und das noch viel heftiger nach den ganzen Jahren, in denen ich ihn unter Kontrolle halten konnte. Und dann werde ich töten und trinken und genauso sein wie Julian. Und wenn ich das nächstemal zu nächtlicher Stunde ein Schlafzimmer betrete, dann nicht, um mich zu unterhalten.«
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