»Dann kehren Sie nur zurück! Holen Sie sich Ihr verdammtes Getränk! Aber bewegen Sie den Dampfer nicht von der Stelle, nicht eher jedenfalls, als bis ich ebenfalls dort erscheine.«
»Mit bewaffneten Männern. Mit angespitzten Holzpflöcken und Haß im Herzen. Um zu töten. Das werde ich nicht zulassen.«
»Auf wessen Seite stehen Sie dann?«
»Auf der Seite meines Volks.«
»Also auf Julians Seite«, zischte Marsh und spuckte aus.
»Nein«, widersprach Joshua York. Er seufzte. »Hören Sie zu, Abner, und versuchen Sie zu verstehen. Julian ist der Blutmeister. Er beherrscht sie alle. Einige von ihnen sind genauso wie er, verdorben, böse. Katherine, Raymond, andere, sie folgen ihm bereitwillig. Aber nicht alle. Sie haben Valerie gesehen, Sie haben sie heute im Boot reden hören. Ich bin nicht allein. Unsere Rassen unterscheiden sich gar nicht so wesentlich. Wir alle haben das Gute und das Böse in uns, und wir alle träumen. Wenn Sie den Dampfer angreifen, wenn Sie sich gegen Julian stellen, dann werden sie ihn verteidigen, ganz gleich, welche persönlichen Hoffnungen sie hegen. Jahrhunderte der Unterwerfung und der Angst treiben sie dann an. Ein Strom aus Blut wird zwischen Tag und Abend fließen, der nur schwer durchschritten werden kann. Diejenigen, die zögern — wenn es überhaupt jemand ist —, werden ausgebootet.
Wenn Sie kommen, Abner, Sie und Ihre Leute, dann wird der Tod regieren. Und nicht Julians Tod allein. Die anderen werden ihn beschützen, und sie werden dabei untergehen, und Ihre Leute ebenfalls.«
»Manchmal muß man eben ein Risiko auf sich nehmen«, sagte Marsh. »Und diejenigen, die Julian helfen, verdienen es sowieso zu sterben.«
»Tun sie das?« Joshuas Gesicht zeigte Trauer. »Vielleicht ist es so. Vielleicht sollten wir alle sterben. Wir sind in dieser Welt, die Ihre Rasse für sich gebaut hat, fehl am Platze. Ihre Rasse hat uns bis auf eine Handvoll ausgerottet. Vielleicht ist es an der Zeit, auch die letzten Überlebenden noch abzuschlachten.« Er lächelte grimmig. »Wenn es das ist, was Sie vorhaben, Abner, dann denken Sie daran, wer ich bin. Sie sind mein Freund, aber die anderen sind Blut von meinem Blut: mein Volk, Ich gehöre zu ihnen. Ich dachte, ich sei ihr König.«
Seine Stimme klang so bitter und verzweifelt, daß Abner Marshs Wut verflog. Statt dessen empfand er Mitleid. »Sie haben alles versucht und sich Mühe gegeben«, sagte er.
»Ich habe versagt. Ich habe auch Valerie nicht helfen können, und Simon und allen anderen, die an mich geglaubt haben. Ich habe euch und Mister Jeffers geschadet, und ich habe auch das kleine Kind umkommen lassen. Ich glaube, auf irgendeine seltsame Art habe ich auch Julian verraten.«
»Es war nicht Ihre Schuld«, beharrte Marsh.
Joshua York hob die Schultern, aber in seinen grauen Augen lag ein entschlossener kalter Ausdruck. »Was vergangen ist, ist vergessen. Ich denke nur noch an heute und an morgen und an übermorgen. Ich muß zurück. Sie brauchen mich, auch wenn sie das vielleicht nicht erkennen. Ich muß zurückkehren und mein möglichstes tun, so wenig und unwichtig es vielleicht auch sein mag.«
Abner Marsh schnaubte. »Und Sie raten mir zur Aufgabe? Meinen Sie, ich sei wie dieser arme Narr, der Sie ständig angegriffen hat? Verdammt, Joshua, was ist mit Ihnen? Wie oft hat Julian sich jetzt an Ihnen gelabt? Mir kommt es so vor, als seien Sie genauso verflucht stur und dumm, wie Sie es von mir behaupten.«
Joshua lächelte. »Vielleicht«, gab er zu.
»Verflucht noch mal«, schimpfte Marsh. »Na schön, gehen Sie zurück zu Julian wie ein armseliger Idiot. Was, zum Teufel, soll ich jetzt tun?«
»Sie sollten lieber so schnell wie möglich von hier verschwinden«, riet Joshua ihm, »ehe unsere Gastgeber noch mißtrauischer werden, als sie es ohnehin schon sind.«
»Soviel habe ich mir auch schon gedacht.«
»Es ist vorbei, Abner. Suchen Sie nicht mehr nach uns.«
Abner Marsh schüttelte wütend den Kopf. »Verdammt noch mal!«
Joshua lächelte. »Sie verfluchter Narr«, sagte er. »Nun, dann suchen Sie, wenn Sie es nicht lassen können. Sie werden uns nicht finden.«
»Ich werde sehen.«
»Vielleicht gibt es für uns noch Hoffnung. Ich kehre zurück, zähme Julian und errichte meine Brücke zwischen Nacht und Tag, und zusammen werden Sie und ich die Eclipse besiegen.«
Abner Marsh schnaubte abfällig, doch tief in seinem Innern wollte er daran glauben. »Kümmern Sie sich um mein verdammtes Dampfschiff«, sagte er. »Es gab nie ein schnelleres, und wenn ich sie zurückbekomme, dann sollte es schon in gutem Zustand sein.«
Als Joshua lächelte, sprang die trockene tote Haut um seinen Mund auf. Er hob eine Hand und riß die Haut ab. Sie ließ sich leicht abziehen, als wäre sie Teil einer Maske, die er trug, einer häßlichen Fratze voller Narben und Falten. Darunter war die Haut milchig weiß, rein und glatt, bereit, von neuem zu beginnen, bereit, daß die Welt sich darauf verewigte. York zerknüllte das alte Gesicht in der Hand; Flocken alten Schmerzes und Hautschuppen rieselten durch seine Finger und segelten zu Boden. Er wischte sich die Hand an der Jacke ab und streckte sie Abner Marsh entgegen. Sie schüttelten sich die Hände.
»Wir alle müssen unsere Wahl treffen«, sagte Marsh. »Das haben Sie mir gesagt, Joshua, und Sie hatten recht. Diese Wahl ist nicht immer leicht. Ich glaube, eines Tages sind auch Sie mit dieser Wahl an der Reihe. Zwischen Ihrem Volk der Nacht — und nun, nennen Sie es das Gute. Recht zu handeln. Sie wissen genau, was ich meine. Entscheiden Sie sich richtig, Joshua.«
»Und Sie, Abner, entscheiden Sie für sich stets weise.«
Joshua York wandte sich mit flatterndem Umhang um und ging hinaus. Er setzte mit lässiger Eleganz über die Balustrade und sprang sieben Meter weit in die Tiefe auf den Erdboden, als täte er dies jeden Tag, und landete geschickt auf den Füßen. Dann war er nicht mehr zu sehen, war verschwunden und bewegte sich so schnell, daß er mit der Nacht zu verschmelzen schien. Vielleicht hat er sich auch in einen verfluchten Nebelhauch verwandelt, dachte Abner Marsh.
Weit weg, auf dem hellen Streifen, der zum Fluß gehörte, betätigte ein Dampfer seine Pfeife. Es war ein melancholischer Ruf, irgendwie verloren und einsam. Es war eine schlimme Nacht auf dem Fluß. Aber Marsh fröstelte und fragte sich, ob es gar schon gefroren hatte. Er schloß die Balkontür und ging wieder zu Bett.
Fieberjahre:
November 1857 — April 1870
Beide taten genau das, was sie sich vorgenommen hatten: Abner Marsh setzte seine Suche fort, aber er fand sein Schiff nicht.
Sie verließen Aaron Grays Plantage, sobald Karl Framm kräftig genug war, um weiterzuziehen, und mehrere Tage nach Joshua Yorks Verschwinden. Marsh war froh, von dort wegzukommen. Gray und seine Leute waren mittlerweile mächtig mißtrauisch geworden und wollten wissen, warum nichts von einer Dampfschiffexplosion in den Zeitungen stand und warum kein Nachbar etwas gehört hatte und warum Joshua sich aus dem Staub gemacht hatte. Und Marsh verfing sich nach und nach im Netz seiner eigenen Lügen. Als er und Toby und Karl Framm flußaufwärts zogen, war die Fiebertraum verschwunden, wie er es auch erwartet hatte. Marsh kehrte nach St. Louis zurück.
Während des langen schweren Winters suchte Marsh ständig weiter. Er schrieb noch mehr Briefe, trieb sich in den Bars und den Billardsälen am Fluß herum, er engagierte weitere Detektive, er las zahllose Zeitungen, er fand Yoerger und Grove und den Rest der Mannschaft der Eli Reynolds und schickte sie als Kabinenpassagiere auf dem Fluß hinauf und hinunter, damit sie sich umsahen. Alle Bemühungen erbrachten nichts. Niemand hatte die Fiebertraum gesehen. Niemand hatte aber auch etwas von der Ozymandias gehört. Abner Marsh gelangte zu der Überzeugung, daß sie ihren Namen schon wieder geändert hatten. Er las jedes gottverdammte Gedicht, das Byron und Shelley je schrieben hatten, aber diesmal ohne irgendein Ergebnis. Es wurde so schlimm, daß er die verdammten Gedichte am Ende auswendig hersagen konnte, und er beschäftigte sich sogar mit anderen Dichtern, aber er fand nichts anderes als einen ziemlich ramponiert aussehenden Heckraddampfer vom Missouri namens Hiawatha .
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