Ista erwachte, fuhr hoch und drückte sich den Fingerknöchel auf den Mund, um einen Schrei zu ersticken. Sie rechnete damit, Blut zu schmecken, warm, kupfern und klebrig, und war beinahe erschrocken, als dem nicht so war. Ihr Körper war schweißgebadet. Ihr Herz raste, und sie atmete keuchend wie nach einem schnallen Lauf.
Im Gemach war es dunkel und kalt, und anders als im Traum sickerte Mondlicht durch die Fensterläden. Liss auf ihrem Beistellbett murmelte etwas vor sich hin und drehte sich herum.
Es war einer von diesen Träumen gewesen. Einer der wahren Träume. Es war kein Irrtum möglich.
Ista umklammerte krampfhaft ihr Haar, riss den Mund auf, erstarrte, schrie lautlos. Flüsterte: » Ich verfluche dich. Wer von euch es auch ist. Alle fünf sollt ihr verflucht sein! Verschwindet aus meinem Kopf! Verschwindet aus meinem Kopf!«
Liss gab einen leisen Laut von sich wie ein Kätzchen und murmelte schläfrig: »Majestät? Ist Euch etwas geschehen?« Blinzelnd stützte sie sich auf einen Ellbogen.
Ista schluckte und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Dann räusperte sie sich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Nur ein schlechter Traum. Schlaf weiter, Liss.«
Liss schnaufte zufrieden und drehte sich wieder zur anderen Seite.
Ista ließ sich zurückfallen und verkroch sich unter dem Federbett, obwohl ihr Körper bereits schweißnass war.
Fing es wieder an?
Nein. Nein. Das lasse ich nicht zu. Sie schnappte nach Luft, schluckte schwer und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Nach einigen Minuten atmete sie ein wenig ruhiger.
Was war das für ein Mann gewesen? Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Doch wenn er ihr jetzt begegnete, würde sie sich sogleich an ihn erinnern. Wie ein Brandmal hatten sich seine ansprechenden Gesichtszüge in ihr Gedächtnis gegraben. Und auch … alle anderen Teile seines Körper. War er ein Feind? Ein Freund? Eine Warnung? Ein Bewohner Chalions, ein Ibraner, ein Roknari? Ein Edler oder ein Gemeiner? Was hatte der unheilvolle rote Blutstrom zu bedeuten? Nichts Gutes jedenfalls, so viel war sicher.
Was immer Du von mir willst, ich kann es nicht. Das habe ich schon einmal bewiesen. Geh weg von mir. Geh weg.
Zitternd lag sie da, für eine lange Zeit. Der Mondschein wich bereits dem dunstigen Zwielicht der ersten Morgendämmerung, als Ista wieder Schlaf fand.
Ista erwachte erst, nachdem Liss aufgestanden war und bereits wieder ins Gemach zurückkehrte. Peinlich berührt erkannte sie, dass ihre Zofe sie die Morgengebete hatte verschlafen lassen. Das war sehr unhöflich — sowohl für sie in ihrer Rolle als vorgebliche Pilgerin wie auch als Gast.
»Ihr habt so erschöpft ausgesehen«, entschuldigte sich Liss, als Ista sie deswegen tadelte. »Ich hatte den Eindruck, Ihr hättet letzte Nacht nicht gut geschlafen.«
Allerdings. Doch Ista musste gestehen, dass sie Dankbarkeit empfand für die zusätzliche Ruhe. Ein untertäniger Akolyth brachte ihr das Frühstück aufs Gemach — ebenfalls nicht die übliche Behandlung für einen Pilger, der den Tagesanbruch verbummelte.
Ista kleidete sich an und ließ ihr Haar ein wenig aufwendiger flechten — sie hoffte, dass sie nicht allzu sehr an ein Pferd erinnerte. Dann schlenderte sie mit Liss über das Anwesen. Nach einer Weile gelangten sie in den Innenhof, der nun im hellen Sonnenlicht lag. Sie setzten sich auf eine Bank an der Mauer und schauten zu, wie die Angehörigen der Akademie ihren Pflichten nachgingen und geschäftig an ihnen vorübereilten — Schüler und Lehrer und Dienstboten. Ista empfand es als angenehm, dass Liss nicht die ganze Zeit plapperte. Wenn sie angesprochen wurde, konnte man eine durchaus angenehme Unterhaltung mit ihr führen; ansonsten hüllte Liss sich in wohltuendes Schweigen.
Ista spürte, wie ein kühler Hauch von der Mauer ausging, an der sie lehnte; es war einer der Geister dieses Ortes. Er strich um sie herum wie eine Katze, die einen Schoß suchte, und beinahe hätte sie die Hand gehoben und ihn fortgescheucht. Dann aber verschwand die Empfindung. Irgendeine bedauernswerte Seele, die nicht von den Göttern aufgenommen worden war, oder die sich ihnen verweigert oder den Weg verloren hatte. Neu entstandene Geister behielten oft die Form bei, die sie zu Lebzeiten besessen hatten, zumindest für eine Weile, und häufig waren sie zornig, abweisend und aufgebracht. Doch im Laufe der Zeit fielen sie alle einer allmählichen, formlosen Auszehrung zum Opfer.
Obwohl das Gebäude alt war, schien es hier nur wenige Geister zu geben, und die waren offenbar ruhig. In Festungen wie dem Zangre war es schlimmer. Ista hatte sich damit abgefunden, dass sie die Anwesenheit dieser Erscheinungen immer noch spürte. Zum Glück aber nahmen die Geister vor ihrem inneren Auge keine Gestalt mehr an: Hätte sie tatsächlich einen vor sich gesehen, wäre ihr erneut ein Gott zu nahe gekommen, und dann wäre das zweite Gesicht zu ihr zurückgekehrt — und alles, was damit einherging.
Ista dachte an den Hof, den sie in ihrem Traum gesehen hatte. An diesem Ort war sie nie zuvor gewesen, das wusste sie genau. Doch sie war überzeugt davon, dass es diesen Ort tatsächlich gab. Um ihm auszuweichen, ganz sicher auszuweichen, musste sie nur zurück nach Valenda und sich dort in der Burg verstecken, bis ihr Leib verrottete.
Nein. Ich werde nicht umkehren.
Der Gedanke daran ließ sie unruhig werden. Sie erhob sich und durchstreifte die Räumlichkeiten des Seminars, wobei Liss ihr pflichtbewusst auf Schritt und Tritt folgte. Viele Akolythen und Geistliche, die ihr auf den Galerien oder Fluren entgegenkamen, verneigten sich und lächelten, und Ista schloss daraus, dass dy Cabons Indiskretion sich inzwischen weit herumgesprochen hatte. Es machte ihr nichts aus, die Rolle der Sera dy Ajelo zu spielen; doch ein halbes Hundert völlig fremder Leute, die ebenfalls so taten, als wäre sie diese Sera dy Ajelo, empfand sie als irritierend.
Sie gelangten zu einer Abfolge kleinerer Gemächer, jedes voller Bücher, die in Regalen standen oder auf Tischen aufgetürmt waren: dy Cabons geliebte Bibliothek. Zu ihrer Überraschung fand Ista dort Foix dy Gura vor; er saß in einer Fensternische und hatte die Nase in einen Folianten gesteckt. Er schaute auf, blinzelte, erhob sich und deutete eine kleine Verbeugung an. »Herrin. Liss.«
»Ich wusste gar nicht, dass Ihr theologische Bücher lest, Foix.«
»Ach, ich lese fast alles. Aber nicht alles hier hat mit Theologie zu tun. Es gibt Hunderte anderer Themen, und manche sind ziemlich merkwürdig. Es gibt einen abgeschlossenen Raum mit Büchern über Zauberei und Dämonen, und … äh, anzüglichen Titeln. Diese Bücher sind angekettet.«
Ista runzelte die Stirn. »Damit man sie nicht aufschlagen kann?«
Ein Lächeln huschte über Foix’ Gesicht. »Damit man sie nicht davontragen kann, würde ich eher sagen.« Er hielt ihr das Buch entgegen, in dem er gerade las. »Es gibt noch weitere Versromane wie diesen hier. Ich könnte einen für Euch heraussuchen.«
Liss blickte sich ehrfürchtig um. Hier waren vermutlich mehr Bücher auf einem Fleck, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Hoffnungsvoll schaute sie zu Ista, die jedoch den Kopf schüttelte und erklärte: »Vielleicht ein andermal.«
Dy Cabon steckte den Kopf durch die Türöffnung. »Ah. Herrin. Ausgezeichnet. Ich habe Euch gesucht.« Er schob seine gesamte Körperfülle in den Raum. Ista hatte ihn seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen, ja, nicht einmal während des abendlichen Gottesdienstes, wie ihr nun auffiel. Dy Cabon wirkte erschöpft und blass, und er hatte Ringe unter den Augen. Hatte er sich letzte Nacht zu lange in mühevolle Studien vertieft? »Ich möchte gern … möchte Euch um eine Unterredung unter vier Augen bitten, wenn Ihr erlaubt.«
Liss hatte Foix bisher über die Schulter gesehen und blickte nun auf. »Soll ich Euch allein lassen, Majestät?«
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