»Und der Vater und die Mutter ordneten untereinander die Welt, damit das Sein nicht sogleich wieder vergehen konnte, verschlungen vom Feuer, dem Chaos und der brodelnden Vernichtung. In ihrer frühen Liebe zueinander brachten sie die Tochter und den Sohn zur Welt, und sie teilten die Jahreszeiten untereinander auf, eine jede nach ihren besonderen Schönheiten, einem jedem zur eigenen Herrschaft und Obhut. Und in der Eintracht und Geborgenheit dieser neuen Ordnung nahm die Welt der Materie, des Stofflichen, an Kraft und Vielfalt zu. Und aus ihrem Bestreben, Schönes zu schaffen, entstanden die Pflanzen und die Tiere und schließlich die Menschen, denn in das flammende Herz der Welt war die Liebe eingezogen, und die Materie trachtete danach, der spirituellen Welt die Gaben des Geistes zu erwidern, so wie Liebende Pfänder austauschen.«
Dy Cabons Vollmondgesicht erhellte sich kurz in einem Ausdruck der Zufriedenheit, und seine Stimme schwankte leicht, als er sich ganz von seiner eigenen Erzählung in Bann schlagen ließ. Ista vermutete, dass sie nun zu jenem Teil der Legende kamen, der ihm am liebsten war.
»Doch das Feuer im Herzen der Welt barg auch zerstörerische Mächte, die nicht zu verleugnen waren. Und aus diesem Chaos erhoben sich die Dämonen, und sie brachen hervor und fielen über die Welt her und machten Jagd auf die zerbrechlichen jungen Seelen, die dort heranwuchsen, so wie der Wolf aus den Bergen in den Tälern einfällt und dort die Lämmer jagt. Dies war die Zeit der mächtigen Zauberer. Die Ordnung der Welt zerbrach, und Winter und Frühling und Sommer und Herbst fielen zusammen oder wechselten in wirrer Folge. Dürre und Flut, Eis und Glut bedrohten das Leben der Menschen und das Dasein all jener wunderbaren Pflanzen und Tiere, welche die Materie in ihrer Liebe der Weltseele dargebracht hatte.
Eines Tages erschien ein mächtiger Dämonenfürst, der schon die Seelen vieler Menschen verschlungen hatte und darüber schlau und verschlagen geworden war. Er begab sich zu einem Mann, der einsam in einer kleinen Einsiedelei tief in den Wäldern lebte. Wie eine Katze mit ihrer Beute spielt, so nahm der Dämonenfürst die Gastfreundschaft des Eremiten in Anspruch und wartete auf eine günstige Gelegenheit, den verbrauchten Leib zu verlassen, den er zu der Zeit bewohnte, um in einen neuen überwechseln. Und der Einsiedler, auch wenn er Lumpen trug, war ein schöner Mann: Sein Blick war so scharf wie eine Schwertklinge, und sein Atem ein Wohlgeruch.
Doch als der Dämonenfürst sich eine kleine irdene Schale mit Wein reichen ließ und sie in einem Zuge lehrte, war er auf das Äußerste erstaunt: Der Heilige hatte seine eigene Seele aufgeteilt, dem Wein beigemischt und sie aus freien Stücken dem Dämon überlassen. Und so geschah es zum ersten Mal, dass ein Dämon eine eigene Seele erhielt — und mit ihr all die wundervollen, aber auch schmerzlichen Gaben, die einer Seele eigen sind.
Da fiel der Dämonenfürst zu Boden, in jener Mönchsklause tief im Wald, und er heulte mit dem Schmerz eines neu geborenen Kindes, denn in diesem Augenblick war er tatsächlich neu geboren worden, in die Welt der Materie und in die des Geistes zugleich. Dann machte er sich den Leib des Eremiten zu Eigen, der diesmal als Gabe kam und nicht gestohlen werden musste gegen den Willen des vormaligen Besitzers. In dieser Gestalt floh er durch die Wälder zurück in seinen Palast, wo er sich in tiefem Schrecken verbarg.
Viele Monate lang verkroch er sich dort, gefangen im Grauen über sich selbst. Allmählich aber machte der Heilige mit der großen Seele ihn mit der Schönheit der Tugend vertraut. Der Heilige nämlich war ein Anhänger der Mutter, und er rief Ihren Segen herab, um den Dämon von seinen Sünden zu befreien. Denn als der Dämon die Gabe des freien Willens empfangen hatte, erhielt er damit auch die Möglichkeit der Sünde, und die brennende Scham darüber quälte den Dämon wie nichts anderes zuvor. Unter der Marter seiner Sünden und den Belehrungen des Heiligen gewann die Seele des Dämons schließlich Stärke und Redlichkeit. Als mächtiger und magischer Streiter, dem die Gunst der Mutter den gepanzerten Arm führte, wirkte er nun in der stofflichen Welt und kämpfte gegen die furchtbaren, seelenlosen Dämonen im Namen der Götter, an Orten, die diese selbst nicht erreichen können.
Der Dämon mit der großen Seele wurde zum ersten und obersten Verfechter der Mutter und zu ihrem Hauptmann, und Sie liebte ihn über alle Maßen ob der strahlenden Pracht seiner Seele. Und so nahm der große Krieg seinen Anfang, in dem die Welt von den ungezügelt wütenden Dämonen befreit und die Ordnung der Jahreszeiten wieder hergestellt werden sollte.
Die anderen Dämonen fürchteten ihn und versuchten, sich gegen ihn zu vereinen. Doch sie vermochten es nicht, denn ein solches Bündnis war wider ihre Natur. Dennoch wütete der Kampf mit furchtbarer Gewalt, und der Dämon mit der großen Seele, der Liebling der Mutter, wurde in der Entscheidungsschlacht erschlagen.
Und so geschah es, dass der Letzte der Götter zur Welt kam, der Bastard, das Kind der Liebe zwischen der Göttin und dem Dämon mit der großen Seele. Manche sagen, er wurde am Vorabend der Schlacht gezeugt, als Frucht einer Vereinigung auf Ihrer großen Bettstatt. Andere behaupten, dass die trauernde Mutter nach dem Kampf die verstreuten Überreste des geliebten Dämons mit der großen Seele vom Schlachtfeld aufsammelte und mit Ihrem Blut vermischte, und so durch Ihr einzigartiges Geschick den Bastard schuf. Doch wie es auch gewesen sein mag, unter allen Göttern war allein diesem die Macht sowohl über Geist und Materie zuteil geworden, denn als Erbteil erhielt er jene Dämonen als Diener, die durch das große Opfer seines Vaters unterworfen, versklavt und aus der Welt verbannt worden waren.
Was ganz gewiss nicht stimmt«, fuhr dy Cabon unvermittelt in zornigem Tonfall fort, »ist der vierfältige Irrglaube, demzufolge der Dämon mit der großen Seele die Mutter mit Gewalt nahm und somit den Bastard gegen Ihren geheiligten Willen zeugte. Eine niederträchtige, unsinnige und lästerliche Verleumdung …!« Ista war sich nicht sicher, ob dy Cabon immer noch Ordol zitierte oder gerade seine eigene Fußnote hinzufügte. Er räusperte sich und schloss sehr viel förmlicher: »Hier endet die Erzählung und die Aufzählung vom Erscheinen der fünf Götter .«
Seit ihrer Kindheit hatte Ista die Legende vom Ursprung der Götter schon Hunderte von Malen und in den unterschiedlichsten Versionen gehört. Doch sie musste gestehen, dy Cabons Vortrag war sowohl redegewandt wie aufrichtig gewesen und ließ die alte Geschichte beinahe neu erscheinen. Gewiss, in den meisten Versionen wurde der verwickelten Entstehung des Bastards nicht mehr Raum eingeräumt als der übrigen Heiligen Familie zusammen, aber man musste schließlich jedem seinen bevorzugten Gott zubilligen. Gegen ihren Willen fühlte Ista sich gerührt.
Dy Cabon fuhr mit dem Gebet fort und erflehte den fünffältigen Segen, ersuchte von jedem der Götter die jeweiligen Gaben und leitete im Gegenzug die Teilnehmer der Andacht bei der Lobpreisung an. Die Tochter bat er um Gedeihen, Gelehrsamkeit und Liebe; die Mutter um Kinder, Gesundheit und Heilung; den Sohn um Freundschaft, Jagdglück und gute Ernte; und den Vater um Kinder, Gerechtigkeit und einen leichten Tod, wenn die Zeit gekommen war.
»Und der Bastard gewähre uns …«, dy Cabons Stimme war zu einem bedächtigen Singsang geworden; und nun stockte er zum ersten Mal, wurde noch langsamer, »… die kleinsten Gaben in größter Not: zum Hufeisen den Nagel, zur Achse den Stift, zur Angel den Zapfen und den Kiesel auf der Spitze des Berges, einen Kuss in der Verzweiflung, das eine richtige Wort. Und Verständnis in der dunkelsten Stunde.« Er blinzelte und blickte erschrocken.
Ruckartig hob Ista den Kopf. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Nein. Nein. Da ist nichts, gar nichts. Nichts, verstehst du? Langsam atmete sie aus.
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