»Diese Stimme kenne ich«, murmelte Harald. »Lord Vivian, nicht wahr? Sie befehligen während der Abwesenheit des Champions die Wachmannschaften auf der Burg.«
Lord Vivian griff nach der Maske und nahm sie vorsichtig ab. Dahinter kam ein hageres, grobknochiges Gesicht zum Vorschein, umrahmt von einer dichten silbergrauen Haarmähne und so fahl, dass es beinahe farblos wirkte. Die Züge verrieten eine unheimliche Beherrschtheit und Kraft, aber die Augen funkelten hart und unerbittlich. Die Augen eines Fanatikers. Sein Körperbau war eher schmal und drahtig als muskulös, aber die knappen Bewegungen zeigten eine tödliche Energie, und Harald fiel auf, dass Vivians Rechte nie weit von seinem Schwertgriff entfernt war.
»Ich befehlige die Burgtruppen«, sagte Lord Vivian langsam. »Jetzt und immer, mein König.«
»Noch bin ich nicht König«, wehrte Harald ab.
»Sie werden es sein«, erklärte Vivian. »Der Champion kommt nicht zurück. Sein Leichnam verrottet irgendwo im Dunkelwald. Ich spreche jetzt für die Wachmannschaften.
Jeder Bewaffnete auf der Burg folgt meinen Anweisungen.
Wenn wir auf Ihrer Seite stehen, wird niemand es wagen, Ihren Thronanspruch in Zweifel zu ziehen.«
»Allerdings«, sagte Harald. »Aber weshalb wollen Sie mich und nicht meinen Vater unterstützen? Sie haben ihm einen Treueeid geschworen, bei Ihrem Leben und Ihrer Ehre.«
»Das war vor der Ausbreitung des Dunkelwalds«, entgegnete Vivian knapp. »Mein Schwur, das Land zu schützen, hat Vorrang vor allen anderen Eiden. Meine Treue gilt dem Thron, nicht dem Mann, der ihn innehat. Das Waldkönigreich ist in Gefahr, und Ihr Vater hat nicht mehr die Kraft, das zu tun, was getan werden muss.«
Harald zog eine Augenbraue hoch. »Ich gehe davon aus, dass Sie Ihre Hilfe an eine Bedingung knüpfen.«
Vivian lächelte kalt. »Treten Sie dem Feind entgegen, Sire! Vereinigen Sie alle Wachmannschaften und Soldaten zu einem großen Heer und nehmen Sie den Kampf gegen die Finsternis auf! Unter meinem Kommando werden sie Dämonen niedermetzeln und in die Flucht schlagen.«
»Und dann?«, fragte Harald.
»Und dann werden meine Truppen einen Feuerwall zwischen uns und den Dämonen errichten; ein helles, sengendes Flammenmeer, das die ekelhaften Kreaturen in das Dunkel zurücktreibt, aus dem sie gekommen sind.«
»Selbst wenn wir annehmen, dass eine solche Taktik Erfolg hat«, meinte Harald nachdenklich, »werden dabei vermutlich hunderte von Grenzhöfen ein Raub der Flammen.
Tausende von Bauern werden umkommen.«
Vivian zuckte mit den Schultern. »Bedauerlich, aber notwendig. Wenn der Dunkelwald weiter vordringt, sterben sie ohnehin. Welche Rolle spielt es, ein paar Bauern zu opfern, wenn durch ihren Tod das Überleben des Waldkönigreichs gesichert ist? Ich bin Soldat. Meine Männer und ich gehen jedesmal, wenn wir in den Kampf ziehen, das gleiche Risiko ein. Wenn alles vorbei ist, können wir neue Höfe errichten…
und die niederen Stände vermehren sich wie die Karnickel.«
»Mag sein«, murmelte Harald. »Dennoch befürchte ich, dass es den Baronen nicht sonderlich gefallen wird, wenn wir einen Teil ihrer Ländereien durch Feuer zerstören.«
»Mein Heer würde den König gegen jeden Feind verteidigen«, sagte Vivian ruhig. »Ganz gleich, aus welchem Lager er käme.«
»Ein tröstlicher Gedanke«, meinte Harald. »Ich werde über Ihre Worte nachdenken, Lord Vivian. Und über Ihr großzügiges Angebot.«
»Das ich nur als Oberkommandierender der Truppen einlösen könnte, Sire.«
»Natürlich, Lord Vivian. Das versteht sich von selbst.«
Vivian verneigte sich leicht und setzte die Harlekinmaske wieder auf. Wasserblaue Augen glitzerten kalt hinter der schwarzweißen Seide. Dann wandte sich Lord Vivian ab und verschwand in der Menge. Harald runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als könne er auf diese Weise seine Gedanken ordnen. Vivians Anwesenheit auf dem Maskenball war keine große Überraschung, aber irgendwie fühlte sich Harald fast enttäuscht. Er hatte eine höhere Meinung von dem Mann gehabt.
Er starrte in das leere Glas, warf es über die Schulter in den Kamin und nahm sich beiläufig ein neues Glas von einem Tablett, das ein Diener an ihm vorbeitrug. Der Wein war lausig, aber völlig nüchtern konnte Harald dieses verdammte Fest nicht ertragen. Als er aufschaute, sah er einen maskierten Lord mit seiner Dame unsicher in seine Richtung steuern.
Harald seufzte und nickte ihnen höflich zu. Er musste mit den Leuten reden, sonst konnte es sein, dass einige der Gäste unruhig wurden und den Ball vorzeitig verließen. Und das war nicht Sinn der Sache. Er verneigte sich vor dem Lord und seiner Dame, und sie erwiderten den Gruß geschmeichelt mit einer tiefen Verbeugung und einem Hofknicks.
Was ich alles tun muss, dachte Harald grimmig. Was ich alles tun muss…
Mehr Maskierte kamen und gingen, während das Fest seinen Lauf nahm. Harald unterhielt sich mit drei Lords, die er von Anfang an als Verschwörer verdächtigt hatte, und mit zwei weiteren, die er für treu ergeben gehalten hatte. Außerdem redete er mit einer Reihe von einheimischen Händlern; allem Anschein nach war der Dunkelwald schlecht für das Geschäft. Die große Mehrheit seiner Gesprächspartner aber waren Höflinge. Das war zu erwarten gewesen. Einerseits neigten Höflinge zwar von Natur aus zu einer konservativen Haltung, da sie als Grundbesitzer oder Verwaltungsbeamte des Königs bei politischen Veränderungen viel verlieren und fast nichts gewinnen konnten. Andererseits aber gehörten die meisten Höflinge dem niederen Adel an und strebten mit aller Macht den Aufstieg in den höheren Adel an. Und das gelang nur, wenn sie entweder mehr Land erwarben oder einflussreichere Posten bei Hofe erhielten. Aus diesem Grund kamen sie zu Harald, verborgen hinter ihren Masken aus Seide, Federn und dünn gehämmertem Edelmetall. Die Masken wechselten, aber das Thema blieb stets das gleiche: Unterstützung gegen Patronage. Nach einer Weile hörte Harald nicht mehr zu und sagte einfach zu allem ja. Das sparte Zeit und Mühe.
Cecelia und Gregory stolzierten Arm in Arm im Saal auf und ab. Sie lächelten und plauderten und sorgten dafür, dass die Anwesenden stets genug Wein in ihren Gläsern hatten.
Die beiden gaben ein schönes Paar ab, klug und verwegen.
Cecelia sprühte vor Esprit; ihre witzigen Bemerkungen und boshaften kleinen Seitenhiebe brachten selbst die sauertöpfischsten Gäste zum Lachen. Gregory war zwar kein geborener Diplomat, aber er konnte charmant sein, wenn er sich Mühe gab; mit Cecelia an seiner Seite strahlte der junge Gardeoffizier Selbstvertrauen aus und flößte den Zaudernden Zuversicht ein. Seine sicheren Manieren und seine offene Herzlichkeit wirkten beruhigend. Dass Cecelia ihn unterhakte, störte die wenigsten; jeder wusste oder ahnte zumindest, dass die beiden eine Liaison hatten. Und da auch Darius offensichtlich nichts dagegen einzuwenden hatte, beließen es die Höflinge bei einem Achselzucken oder einem spöttischen Blick. Die Politik ging die sonderbarsten Ehen ein – manchmal im wahrsten Sinn des Wortes.
Darius entgingen selbst die kleinen Andeutungen nicht.
Narren. Er wusste, dass man mit Charme mitunter mehr erreichen konnte als mit Vernunft und Logik. Und da er selbst kaum Charme besaß, brauchte er jemanden, der ihn in diesen Belangen vertrat. Jemanden, der gut aussah, sich zu benehmen wusste und nicht genug Hirn besaß, um Intrigen gegen seinen Herrn zu spinnen. Gregory war wie maßgeschneidert für diese Position. Dass Cecelia ihn mochte, erleichterte die Sache. Aber schließlich war Cecelia auch nicht die Klügste.
Darius seufzte leise und warf einen Blick in die Runde.
Wenigstens hatte sich Harald endlich dazu herabgelassen, mit den übrigen Gästen zu plaudern, auch wenn er vor allem vom niederen Adel umlagert war, der weder Macht noch Einfluss besaß. Darius rümpfte zynisch die Nase. Es wurde höchste Zeit, dass Harald seinen Beitrag leistete und sich die königlichen Finger schmutzig machte. Darius dachte an die harten Verhandlungen, mit denen er soeben die beiden führenden Getreidehändler des Landes auf seine Seite gebracht hatte, und lächelte grimmig. Politik und Waffengewalt reichten nicht, um einen Umsturz herbeizuführen. Das würden Harald und die Barone noch schmerzlich erfahren. Als Gegenleistung für bestimmte künftige Konzessionen besaß Darius nun sämtliche Getreidevorräte, die es im Waldkönigreich noch gab.
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