Die Wilde Magie des Blauen Mondes; stark genug, um die Realität selbst zu verändern.
Rupert schüttelte rasch den Kopf, um die wirren Gedanken zu vertreiben. Bis jetzt war dem Land kein Schaden zugefügt worden, der sich durch den Tod des Dämonenfürsten nicht rückgängig machen ließe. Zumindest hatten das die anderen behauptet. Rupert runzelte die Stirn. Er merkte, dass er nicht mehr viel darauf gab, was andere sagten.
»Wie kommst du zurecht, Drache?« Der Prinz brauchte den Trost einer Stimme, selbst wenn es nur die eigene war.
»Großartig«, erklärte der Drache. Er bewegte seine Schwingen kraftvoll und gleichmäßig auf und ab. »Ich fühle mich wieder… jung. Meine Knochen schmerzen nicht mehr, ich kann tief durchatmen, und ich sehe endlos weit. Ich hatte vergessen, wie schön das Jungsein ist. Das macht die Wilde Magie, Rupert. Ich spüre sie. Sie singt in meinem Blut. Die Wilde Magie herrscht wieder über die Welt. Wie damals in meiner Jugendzeit. Als es noch keine Menschen auf der Erde gab.«
»War das eine bessere Zeit für dich?«, fragte Rupert nachdenklich.
»Besser?« Der Drache schwieg eine Weile und furchte die breite Stirn, während er mit unverminderter Geschwindigkeit durch das Dunkel flog. »Sie war… anders.«
Der Dunkelwald erstreckte sich in der Tiefe, ein endloses Gewirr eng verflochtener Baumkronen. Knorriges Astwerk bildete ein undurchdringliches Dach über den morschen Stämmen. Scharfe Dornen ragten in die Nacht, und der süßliche Gestank von Verwesung war überall.
»Entschuldigt meine naive Frage«, sagte Julia, »aber wie sollen wir den Dämonenfürsten in dem Labyrinth da unten jemals aufstöbern? Es kann Stunden dauern, bis wir uns einen Weg durch das Gestrüpp gebahnt haben – und niemand garantiert uns, dass es der richtige Weg ist!«
»Keine Sorge, ich finde den Dämonenfürsten«, erklärte der Astrologe grimmig. »Meine Magie wird uns geradewegs zu ihm führen.«
»Und was geschieht, wenn wir ihn gefunden haben?«, wollte Julia wissen.
»Wir vernichten ihn«, erklärte der König. »Das Land schreit nach Rache!«
»Klar«, sagte Julia. »Wir vernichten ihn. Einfach so. Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie wir das bewerkstelligen sollen, stimmt's?«
»Wir werden unser Möglichstes tun«, meinte Rupert. »Zuerst versuchen wir es mit Stahl und Eisen. Wenn das nichts hilft, greifen wir zur Magie. Wenn das nichts hilft, lassen wir den Drachen Feuer speien.«
»Und wenn das nichts hilft?«
»Dann haben wir ein Problem.«
»Klasse«, sagte Julia. »Echt Klasse.«
Das undurchdringliche Geflecht der Baumkronen wogte wie ein endloses Meer in der Tiefe. Das lastende Entsetzen der langen Nacht war über dem Dunkelwald etwas leichter zu ertragen, aber dennoch drang die Schwärze von allen Seiten auf den Drachen ein. Sie lastete auf seinen Schwingen und wog immer schwerer, je weiter er vordrang, fast als stemme sie sich gegen ihn. Rupert spürte einen wachsenden Druck, als sie ihren Weg fortsetzten, und der Drache musste sich gewaltig anstrengen, um sein Tempo beizubehalten. Das Schlagen seiner Flügel nahm einen rastlosen Rhythmus an, und sein Atem ging immer schneller. Stimmen drangen aus dem Dunkel, ein Murmeln, Lachen, Kreischen, und mehr als einmal spürte Rupert, wie etwas seine Hände oder sein Gesicht streifte. Er wusste nicht, ob es den anderen ebenso erging wie ihm, und fragte auch nicht danach, weil er es gar nicht wissen wollte. Am liebsten hätte er den Hals des Drachen losgelassen und wild um sich geschlagen, um die unsichtbaren Kreaturen auf Distanz zu halten, aber er nahm sich eisern zusammen. Er durfte jetzt nicht die Beherrschung verlieren, keine Sekunde lang. Ruhig bleiben, mein Lieber, dachte er. Sie versuchen dich zu erschrecken, das ist alles.
Lass sie nicht merken, wie gut ihnen das gelingt!
»Dort unten«, sagte der Astrologe plötzlich und deutete auf einen Fleck zu seiner Linken, »befindet sich eine Lichtung, die von Baumkronen überdacht wird. Dort werden wir den Dämonenfürsten antreffen.«
»Bist du sicher?«, fragte der König.
»Völlig sicher, Johann«, bekräftigte der Astrologe.
Der Drache drehte den Kopf nach hinten, um zu sehen, wohin der Astrologe zeigte, drehte eine Schleife und glitt tiefer. Aus dem bizarren Astwerk des Dunkelwaldes ragten gefährliche Dornenspieße auf. Im letzten Moment sperrte der Drache das breite Maul weit auf und spie Flammen, die sich wie Säure durch das Dach des Waldes fraßen. Das morsche Holz schien ihnen keine Nahrung zu bieten, denn sie erloschen gleich darauf wieder. Aber das Loch, das sie in die Dornenbarriere gebrannt hatten, war groß genug, damit der Koloss mit eng angelegten Schwingen in die Tiefe tauchen konnte. Das Mondlicht war plötzlich abgeblockt, und der Drache fiel wie ein Stein nach unten. Er spreizte die Flügel, um den Sturz abzufangen, und landete so hart auf dem Waldboden, dass seine Begleiter alle Mühe hatten, sich auf seinem Rücken zu halten. Einen Moment lang stockte allen der Atem.
Ringsum war tiefe Schwärze, lautlos und tödlich.
»Hat jemand daran gedacht, eine Laterne mitzunehmen?«, murmelte Julia nach einer Weile.
Der Drache hüstelte zuvorkommend. Ein kurzer Feuerstrahl kam aus seinem Maul, der einen kleinen Kreis aus Flechten und öligen Moosen entzündete. Plötzlich war die Lichtung in einen hellen, flackernden Schein gehüllt. Rupert schwang sich vom Rücken des Drachen, sorgsam darauf bedacht, nicht in den Feuerkreis zu treten. Die Flammen schienen ruhig und gleichmäßig zu brennen, ohne sich jedoch auszubreiten. Rupert nickte zufrieden. Er zog sein Schwert und trat ein paar Schritte zur Seite, damit die anderen absteigen konnten.
Die Lichtung war nicht sonderlich groß, ein Fleck von etwa zwölf Metern Durchmesser, von dem ein halbes Dutzend Pfade in den Wald führten. Genau in der Mitte stand ein einzelner halb verrotteter Baumstumpf, der die groben Umrisse eines Throns aufwies. Frische Blutflecken überzogen das verfaulte Holz. Rupert spähte hinauf zu der Öffnung, die der Drache in das Astgeflecht gebrannt hatte, aber weder der Blaue Mond noch sein Licht waren zu sehen. Julia trat neben ihn, das Schwert in der Hand. Sie lächelten einander kurz zu.
Dann ging die Prinzessin langsam um den Drachen herum und horchte angespannt in das Dunkel. Der König und der Astrologe standen gemeinsam neben dem modrigen Thron.
»Ist dieses Feuer nicht gefährlich?«, fragte der König leise.
»Das Licht wird den Dämonen verraten, dass wir hier sind.«
Der Astrologe lächelte dünn. »Das wissen sie auch ohne Licht, Johann.«
»Ein gruseliger Ort«, meinte Julia, während sie vorsichtig über einen Haufen blutverspritzter Knochen stieg, an denen zum Teil noch Fleischreste hingen. Aus den Moospolstern quoll Blut, als sie darauf trat.
»Also schön, Sir Astrologe«, meinte Rupert schließlich.
»Wo bleibt nun der Dämonenfürst?«
»Sie verlangen nach ihm?«, fragte der Astrologe. »Dann werde ich ihn rufen. Meister! Sie sind hier! Ich habe sie zu Euch geführt!«
Rupert und Julia starrten ihn entsetzt an und stürmten vorwärts, die Schwerter gezückt, doch bevor sie den Astrologen erreichten, wurden sie von einem gewaltigen Gewicht zu Boden gedrückt. Rupert kämpfte verbissen gegen die unsichtbare Kraft an, die ihn eisern festhielt, schaffte es aber lediglich, den Kopf aus den blutgetränkten Moospolstern zu heben.
Das Schwert war ihm aus der Hand gefallen, und er konnte den Kopf nicht weit genug zur Seite drehen, um zu sehen, wo es lag. Dicht neben ihm lag der König, ebenso hilflos wie er selbst, und am Rande der Lichtung wand sich der Drache und versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen. Der Astrologe lachte leise. Mit unmenschlicher Anstrengung hob Rupert den Kopf und sah ihn an. Thomas Grey lümmelte auf dem morschen Holzstumpf und spielte mit einem leuchtenden Schwert, in dessen Griff ein trüber schwarzer Edelstein eingesetzt war.
Читать дальше