»Du hast einen großen Dorn da drin, Hlao«, sagte er. »Kein Wunder, daß du nicht rennen konntest. Wir werden ihn herausziehen müssen.«
Es war nicht leicht, den Dorn herauszubekommen, denn der Fuß war so empfindlich geworden, daß Pipkin zusammenzuckte und selbst vor Hazels Zunge zurückschreckte. Doch nach einer ganzen Weile geduldiger Anstrengung gelang es Hazel, genug von dem Stumpen herauszuarbeiten, um den Dorn mit den Zähnen greifen zu können. Der Dorn kam glatt heraus, und die Wunde blutete. Der Stachel war so lang und dick, daß Hawkbit, der zufällig in der Nähe war, Speedwell weckte, damit er ihn sich ansähe.
»Frith im Himmel, Pipkin!« sagte Speedwell, an dem Dorn, der auf einem Kiesel lag, schnüffelnd. »Du solltest noch ein paar mehr von denen da sammeln; dann könntest du eine Anschlagtafel machen und Fiver erschrecken. Du hättest das Auge des lendris für uns herausstechen können, wenn du's nur gewußt hättest.«
»Lecke die Stelle, Hlao«, sagte Hazel. »Lecke sie, bis sie nicht mehr schmerzt, und dann geh schlafen.«
10. Die Straße und das Gemeindeland
Timorous antwortete, daß sie ... diesen schwierigen Ort hinaufgegangen waren. »Aber«, sagte er, »je weiter wir gehen, auf desto mehr Gefahren stoßen wir, worauf wir kehrtmachten und wieder zurückgingen.«
John Bunyan The Pilgrim's Progress
Nach einiger Zeit weckte Hazel Buckthorn. Dann kratzte er sich ein flaches Nest in die Erde und schlief. Während des Tages folgte eine Wache der anderen. Wie die Kaninchen dabei den Zeitablauf beurteilten, ist etwas, das zivilisierte Menschen nicht mehr begreifen können. Geschöpfe, die weder über Uhren noch Bücher verfügen, sind empfänglich für alle Kenntnisse, die sich über die Zeit, über das Wetter sowie über die Richtung gewinnen lassen, wie wir von ihren außergewöhnlichen Zug- und Heimkehrflügen wissen. Die Veränderungen in der Wärme und Feuchtigkeit des Bodens, das Sinken der Sonnenlichtflecken, die wechselnden Bewegungen der Bohnen im leichten Wind, die Richtung und Stärke der Luftströme entlang dem Boden - all dies wurde von dem wachhabenden Kaninchen wahrgenommen.
Die Sonne begann unterzugehen, als Hazel erwachte und Acorn in der Stille zwischen zwei weißen Kieseln horchen und schnüffeln sah. Das Licht war trüber geworden, die Brise hatte sich gelegt, und die Bohnen waren still. Pipkin lag etwas weiter weg ausgestreckt da. Ein schwarz-gelber Totengräber, der über den weißen Pelz seines Bauches kroch, hielt an, schwenkte seine kurze gekrümmte Antenne und kroch dann wieder weiter. In Hazel spannte sich alles vor plötzlicher Befürchtung. Er wußte, daß diese Käfer zu toten Kleintieren kommen, an ihnen fressen und ihre Eier ablegen. Sie graben die Erde unter den Körpern kleiner Geschöpfe wie Spitzmäusen und aus dem Nest gefallenen Vögeln weg, und dann legen sie ihre Eier auf sie, ehe sie sie mit Erde bedecken. Pipkin war doch nicht etwa im Schlaf gestorben? Hazel setzte sich schnell auf. Acorn schreckte hoch und drehte sich zu ihm um, und der Käfer huschte über die Kiesel fort, als Pipkin sich bewegte und erwachte.
»Was macht die Pfote?« fragte Hazel. Pipkin setzte sie auf den Boden. Dann stand er auf.
»Es fühlt sich viel besser an«, sagte er. »Ich glaube, ich werde jetzt ebenso gut wie die anderen laufen können. Sie werden mich nicht zurücklassen, nicht wahr?«
Hazel rieb seine Nase hinter Pipkins Ohr. »Niemand wird jemanden zurücklassen«, sagte er. »Wenn du bleiben müßtest, würde ich bei dir bleiben. Aber such dir keine neuen Dornen aus, Hlao-roo, weil wir vielleicht noch einen langen Weg vor uns haben.«
Im nächsten Augenblick sprangen alle Kaninchen entsetzt hoch. Aus allernächster Nähe peitschte ein Schuß durch die Felder. Ein Kiebitz flog kreischend auf. Das Echo kam wellenförmig zurück, und aus dem Wald jenseits des Flusses drang das Flügelschlagen der Ringeltauben zwischen den Zweigen herüber. Im Nu rannten die Kaninchen nach allen Richtungen durch die Bohnenreihen, jedes flitzte instinktiv auf Löcher zu, die nicht da waren.
Hazel stoppte am Rande des Bohnenfelds. Er sah sich um und konnte keinen von den anderen sehen. Er wartete zitternd auf den nächsten Schuß, aber es herrschte Stille. Dann fühlte er durch die Schwingungen auf dem Boden den stetigen Schritt eines Menschen, der den Kamm verließ, über den sie an diesem Morgen gekommen waren. Dann erschien Silver, der durch die Pflanzen in der Nähe angerannt kam.
»Ich hoffe, es ist der Rabe - du nicht auch?« sagte Silver.
»Ich hoffe, daß niemand so dumm gewesen ist, aus diesem Feld wegzulaufen«, antwortete Hazel. »Sie sind alle verstreut. Wie können wir sie finden?«
»Ich glaube nicht, daß es uns gelingt«, sagte Silver. »Wir sollten dahin zurückgehen, woher wir gekommen sind. Sie werden schon alle nach und nach zurückkehren.«
Es dauerte tatsächlich lange, bis alle Kaninchen wieder in der Höhlung inmitten des Feldes waren. Während er wartete, wurde es Hazel klarer denn je, wie gefährlich ihre Lage war, ohne Löcher in einem Land zu wandern, das sie nicht kannten. Der lendri, der Hund, der Rabe, der Schütze - sie hatten Glück gehabt, ihnen zu entrinnen. Wie lange würde ihr Glück andauern? Würden sie wirklich zu Fivers hochgelegenem Ort gelangen - wo auch immer er sein mochte?
»Ich würde mich für jede anständige, trockene Böschung entscheiden«, dachte er, »solange Gras und keine Menschen mit Flinten da sind. Und je früher wir eine entdecken, desto besser.«
Hawkbit kehrte als letzter zurück, und als er da war, setzte Hazel sich sofort in Bewegung. Er lugte vorsichtig durch die Bohnen und sauste dann in die Hecke. Der Wind, den er schnupperte, als er stoppte, war beruhigend und trug nur die Gerüche von abendlichem Tau, Weißdornblüten und Kuhdung. Er lief voraus in das nächste Feld, eine Weide; und hier stürzten sie sich alle aufs Fressen, knabberten sich so sorglos durch das Gras, als wäre ihr Gehege dicht in der Nähe.
Als er halbwegs durch das Feld hindurch war, wurde Hazel eines hrududu gewahr, der sich auf der anderen Seite der entfernteren Hecke in großer Geschwindigkeit näherte. Er war klein und weniger geräuschvoll als der Farm-Traktor, den er manchmal vom Rand des heimatlichen SchlüsselblumenWaldes aus beobachtet hatte. Wie ein Blitz schoß er vorbei in einer unnatürlichen, von Menschen gemachten Farbe, die hier und da heller glitzerte als eine Winterstechpalme. Etwas später folgte der Geruch von Benzin und Auspuff. Hazel machte große Augen und zuckte mit der Nase. Er konnte nicht verstehen, wie der hrududu so schnell und glatt durch die Felder jagen konnte. Ob er zurückkehrte? Würde er schneller durch die Felder fahren, als sie rennen konnten, und sie zur Strecke bringen?
Als er zögerte und sich überlegte, was er nun wohl tun sollte, kam Bigwig heran.
»Da ist eine Straße«, sagte er. »Das wird einige von uns überraschen, nicht wahr?«
»Eine Straße?« sagte Hazel und dachte an den Weg neben dem Anschlagbrett. »Woher weißt du das?«
»Nun, was denkst du wohl, wieso ein hrududu so schnell fahren kann? Außerdem, riechst du es denn nicht?«
Der Geruch nach warmem Teer war jetzt ganz deutlich in der Abendluft zu spüren.
»Ich habe das noch nie in meinem Leben gerochen«, sagte Hazel mit einem Anflug von Gereiztheit.
»Ach so«, sagte Bigwig, »dann wurdest du also nie fortgeschickt, um Salatblätter für den Threarah zu stehlen, nicht wahr? Andernfalls wüßtest du Bescheid. Die sind wirklich nicht gefährlich, außer bei Nacht. Dann sind sie elil, bestimmt.«
»Du solltest mir Unterricht geben, glaube ich«, sagte Hazel. »Ich gehe mit dir nach oben, und die anderen lassen wir dann folgen.«
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