Für Juliet und Rosamond in Erinnerung an die Straße nach Stratford-on-Avon
Master Rabbit I saw
Walter de la Mare
HOR: Warum wehklagst du so, wenn nicht bei einem Bild des Schreckens?
CASSANDRA: Das Haus dampft nach Tod und tropfendem Blut.
CHOR: Wieso? Es ist nur der Geruch nach dem Altaropfer.
CASSANDRA: Der Gestank ist wie Grabeshauch.
Äschylus Agamemnon
Die gelben Schlüsselblumen waren verblüht. Am Rande des Gehölzes, wo es sich weitete und gegen einen alten Zaun und einen dornigen Graben dahinter abfiel, zeigten sich nur noch ein paar verwelkende blaßgelbe Flecken zwischen dem Bingelkraut und den Eichenwurzeln. Der obere Teil des Feldes jenseits des Zaunes war voll von Kaninchenlöchern. An manchen Stellen war das Gras ganz verschwunden, und überall lagen Haufen trockenen Mistes, zwischen denen nichts als Jakobskreuzkraut wuchs. Hundert Meter entfernt, an der Sohle des Abhanges, floß der Bach, knapp einen Meter breit, halb erstickt durch Sumpfdotterblumen, Kresse und blauen Besenginster. Der Fahrweg überquerte einen Abzugsgraben aus Backstein und kletterte den gegenüberliegenden Hang zu einem mit fünf Querbalken versehenen Tor in der Dornenhecke empor. Das Tor führte auf den Heckenweg. Der Mai-Sonnenuntergang war wolkig-rot, und es war immer noch eine halbe Stunde bis zur Abenddämmerung. Der trockene Abhang war mit Kaninchen übersät - einige knabberten an dem spärlichen Gras nahe ihrem Loch, andere drängten weiter nach unten, um nach Löwenzahn oder vielleicht einer Schlüsselblume zu suchen, die die anderen übersehen hatten. Hier und da saß eines aufrecht auf einem Ameisenhaufen und sah sich um, die Ohren aufgerichtet und die Nase im Wind. Aber eine Amsel, die gelassen im Randgebiet des Gehölzes sang, bewies, daß es nichts Beunruhigendes gab, und in der anderen Richtung, am Bach, war alles gut zu übersehen, leer und ruhig. Im Gehege herrschte Frieden.
An der Böschung oben, nahe dem wilden Kirschbaum, wo die Amsel sang, befand sich eine kleine Ansammlung von Löchern, durch Brombeersträucher fast verdeckt. In dem grünen Halblicht am Eingang eines dieser Löcher saßen zwei Kaninchen Seite an Seite. Schließlich kam das größere von beiden heraus, schlüpfte im Schutz des Dornengestrüpps an der Böschung entlang und weiter in den Graben und hinauf in das Feld. Ein paar Augenblicke später folgte das andere.
Das erste Kaninchen verharrte auf einem sonnigen Fleck und kratzte sein Ohr mit schnellen Bewegungen seines Hinterbeins. Obgleich es ein Jährling und immer noch unter seinem vollen Gewicht war, hatte es nicht den gequälten Ausdruck der meisten »Outskirters« - das heißt, der großen Masse der gewöhnlichen Kaninchen im ersten Jahr, denen es entweder an adliger Herkunft oder an ungewöhnlicher Größe und Kraft mangelt und die deshalb von den Älteren schikaniert werden und so gut zu leben versuchen, wie sie eben können - oft im Freien, am Rande ihres Geheges. Es machte vielmehr den Eindruck, als ob es auch für sich selbst sorgen könnte. Es war etwas Schlaues, Heiteres an ihm, als es sich aufsetzte, um sich blickte und beide Vorderpfoten über die Nase rieb. Sobald es sich vergewissert hatte, daß alles in Ordnung war, legte es seine Ohren zurück und machte sich über das Gras her.
Seinem Gefährten war es weniger behaglich. Er war klein, mit großen starrenden Augen und einer Art, den Kopf zu heben und zu drehen, die nicht so sehr Vorsicht erkennen ließ als endlose nervöse Spannung. Seine Nase bewegte sich dauernd, und als eine Hummel summend zu einer Distelblüte hinter ihm flog, sprang er auf und fuhr mit einem Ruck herum, der zwei Kaninchen in der Nähe nach Löchern hasten ließ, ehe das nächste, ein Bock mit schwarzgetupften Ohren, ihn erkannte und zu seinem Futter zurückkehrte.
»Oh, es ist nur Fiver«, sagte das schwarzgetupfte Kaninchen, »springt wieder nach Brummern. Los, Buckthorn, was sagtest du gerade?«
»Fiver?« fragte das andere Kaninchen. »Warum wird er so genannt?«
»Fünf im Wurf, weißt du: Er war der letzte - und der kleinste. Man muß sich wundern, daß ihm bis jetzt nichts passiert ist. Ich sage immer, ein Mensch könnte ihn nicht sehen und ein Fuchs würde ihn nicht wollen. Trotzdem gebe ich zu, daß er imstande zu sein scheint, Gefahren aus dem Weg zu gehen. [1] Kaninchen können bis vier zählen. Jede Zahl über vier ist Hrair - »eine Menge« oder »ein Tausend«. So sagen sie U Hrair - »das Tausend« - und meinen insgesamt alle Feinde (oder elil, wie sie sie nennen) von Kaninchen - Füchse, Wiesel, Katzen, Eulen, Menschen etc. Wahrscheinlich waren es mehr als fünf Kaninchen in dem Wurf, als Fiver geboren wurde, aber sein Name Hrairoo bedeutet »Kleines Tausend«, das heißt, der Kleine einer Menge oder, wie man bei Schweinen sagt, »die Zwergrasse«.
«
Das kleine Kaninchen näherte sich seinem Gefährten, auf langen Hinterbeinen hoppelnd.
»Gehen wir ein bißchen weiter, Hazel«, sagte es. »Weißt du, es ist etwas Sonderbares an dem Gehege heute Abend, wenn ich auch nicht genau sagen kann, was es ist. Wollen wir zum Bach hinuntergehen?«
»Gut«, antwortete Hazel, »und du kannst eine Schlüsselblume für mich suchen. Wenn du keine findest, schafft es niemand.«
Er lief voran, den Abhang hinunter, sein Schatten fiel lang hinter ihm auf das Gras. Sie erreichten den Bach und begannen zu knabbern und dicht neben den Wagenspuren auf dem Pfad zu suchen.
Es dauerte nicht lange, bis Fiver fand, was sie suchten. Schlüsselblumen sind eine Delikatesse für Kaninchen, und in der Regel sind gegen Ende Mai in der Nachbarschaft selbst eines kleinen Geheges nur sehr wenige übrig. Dieses hatte nicht geblüht, und seine flach ausgebreiteten Blätter waren unter dem langen Gras fast gänzlich verborgen. Sie fingen gerade an zu knabbern, als zwei große Kaninchen von der anderen Seite der nahen Viehweide angerannt kamen.
»Schlüsselblumen?« sagte der eine. »Sehr schön - überlaßt sie uns. Los, beeilt euch«, fügte er hinzu, als Fiver zögerte. »Hast du mich verstanden, oder?«
»Fiver hat sie gefunden, Toadflax«, sagte Hazel.
»Und wir werden sie fressen«, erwiderte Toadflax. »Schlüsselblumen sind für Owsla [2] Beinahe alle Gehege haben eine Owsla oder Gruppe starker und kluger Kaninchen - im zweiten Jahr oder älter -, die das Oberkaninchen und sein Weibchen umgeben und Autorität ausüben. Owslas können verschieden sein. In einem Gehege ist es vielleicht eine Bande von Kriegsherren; in einem anderen kann es sich zum großen Teil um kluge Polizeistreifen oder um einen Gartenstoßtrupp handeln. Manchmal erlangt ein guter Geschichtenerzähler einen Rang oder ein Seher oder ein Kaninchen mit Intuition Im Sandleford-Gehege hatte die Owsla diesmal militärischen Charakter (obgleich sie, wie später zu sehen sein wird, nicht so militärisch war wie einige andere).
da - weißt du das nicht? Wenn du's noch nicht weißt, können wir's dir leicht beibringen.«
Fiver hatte sich schon abgewandt. Hazel holte ihn am Abzugsgraben ein.
»Ich habe das langsam satt«, sagte er. »Es ist immer dasselbe. >Das sind meine Klauen, also ist dies meine Schlüsselblume< >Das sind meine Zähne, also ist dies mein Bau.< Ich sage dir, wenn ich je in die Owsla hineinkomme, werde ich Outskirter mit einigem Anstand behandeln.«
»Nun, du kannst wenigstens damit rechnen, eines Tages in der Owsla zu sein«, antwortete Fiver. »Du setzt noch Gewicht an, und das ist mehr, als ich je haben werde.«
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