Franz Jung, am 26. November 1888 in Neiße, Oberschlesien, geboren, Börsenjournalist, Bohemien, Expressionist, Wirtschaftsanalytiker und revolutionärer Aktivist. Mitarbeiter der Aktion von Franz Pfemfert und des Malik-Verlags; Autor von expressionistischen und sozialkritischen Romanen und Erzählungen, schrieb für Erwin Piscator Theaterstücke. Mitinitiator der Dada-Bewegung, Teilnahme an den revolutionären Kämpfen nach 1918 und an der Entführung eines Schiffes nach Russland. In der frühen Sowjetunion als Organisator der Hungerhilfe sowie im Wirtschaftssektor tätig. Nach 1933 von den Nazis verhaftet, illegale Tätigkeit in Genf, Wien und Budapest. 1944 Flucht nach Italien. 1947 Emigration in die USA, arbeitete in New York und San Francisco als Wirtschaftsjournalist. Ende der fünfziger Jahre Rückkehr nach Europa. 1961 erschien erstmalig seine Autobiografie. Jung starb am 21. Januar 1963 in Stuttgart.
Editorische Notiz: Die vorliegende Ausgabe folgt der Originalausgabe des Luchterhand Verlags, Neuwied/Berlin 1961. Offensichtliche orthographische Fehler insbesondere der Eigennamen wurden korrigiert, ein Register hinzugefügt. Die hier vorliegende 5. Auflage folgt erstmalig der neuen deutschen Rechtschreibung von 2011 gemäß Brockhaus/Wahrig 8. Auflage. Die stilistischen Eigenheiten Franz Jungs wurden entsprechend der Originalausgabe beibehalten.
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www.edition-nautilus.deAlle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus Erstausgabe Frühjahr 1986 Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg, unter Verwendung eines Porträts von Franz Jung aus seinem zu Beginn der 1920er Jahre gefälschten Pass 5. Auflage April 2019 ePub ISBN 978-3-96054-195-0
I DIE GRÜNEN JAHRE I DIE GRÜNEN JAHRE Warum suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist? Thomas von Kempen
Neiße, Oberschlesien
In Neiße hat es angefangen
Es zog ein Bursch hinaus
Mit Ohrfeigen in die Literatur
Die Boheme löst sich auf
Der Dichter greift in die Politik
Auf! – Sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht die Jäger blasen?
Die Revolution wirft ihre Schatten voraus
II DIE ROTEN JAHRE
Der 9. November
Die Straße frei!
Unter roter Flagge nach Sowjetrussland
Unter der Sonne Moskaus
Am Siechenlager der Revolution
Der Osteraufstand im Mansfeldschen
„Nehmt mich mit!“
III DIE GRAUEN JAHRE
Nicht stille stehen
Die Erkenntnis setzt sich durch
Die Schattenexistenz am Rande
Rückkehr in die Literatur
Expressionismus und die Folgen
Die Wurzeln der Hitler-Katastrophe
Der Handel mit Russenwechseln
Die Geschäfte dehnen sich aus
Der neue Gegner
Vom Ringplatz aus in die Zeit
Der Widerstand löst sich auf
Der letzte Ausmarsch
IV UND DIE LETZTEN JAHRE
Der Torpedokäfer
Unter dem Zelt in Italien
Ins Tausendjährige Reich
Insel in der braunen Flut
Vorbereitung des Widerstandes – Die ersten Anzeichen
Spielereien am Rande der Katastrophe
Was bleibt noch?
Kriegsjahre in Ungarn
Nachkriegsjahre in Italien
Was ist zu beweisen – ist etwas zu beweisen?
Gehabt Euch wohl!
PERSONENREGISTER
Warum suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist?
Thomas von Kempen
Die Stadt Neiße im preußischen Oberschlesien ist in ihrer sozialen Struktur, mit der sie in das zwanzigste Jahrhundert übernommen wurde, ein Überbleibsel aus dem Siebenjährigen Krieg. Friedrich, der preußische Soldatenkönig – nach der Historie – hatte für die Feldzüge gegen Kaiserin Maria Theresia ein Etappenlager bestimmt und zur Festung ausgebaut, etwas abseits gelegen von den Durchgangsstraßen durch das Gebirge nach Polen und Böhmen, geschützt in einem Winkel der westlichen Ausläufer der Sudeten. Im Zentrum dieses befestigten Heerlagers lag die Ackerbürgerstadt Neiße, am westlichen Abhang des Altvater-Gebirges in einer Ebene, die sich nach Norden hin zum Odertal ausweitet, Südzipfel jenes Österreich-Schlesiens, das nach den Feldzügen an Preußen abgetreten worden ist. Von dem eigentlichen Sudetenland war Neiße durch die Gebirgskette getrennt, aber nicht vergessen. Ein Waffenlager von beträchtlichem Ausmaß, Verpflegungs- und Ausbildungszentrum einer Armee. So ist es auch in all den Jahrzehnten, ein ganzes Jahrhundert und ein halbes, geblieben.
Früher war Neiße einmal der Sitz eines Bischofs, was der Stadt in der österreichisch-ungarischen Monarchie den Beinamen „das schlesische Rom“ eingetragen hat. Und wie die Chroniken gehen, noch früher saßen Markgrafen in der Stadt, die von diesem Schutzwinkel aus im Bergkessel der Sudeten die Hauptverbindungswege der deutschen Länder nach Ungarn und dem weiteren Südosten beherrschten, die durchreisenden Kaufleute mit Zöllen belegten und, wenn die Gelegenheit sich dazu ergab, ausplünderten. Außer einer Vorliebe für Ungarwein ist in diesem Teile Oberschlesiens und in Neiße nicht viel von dieser Zeit zurückgeblieben.
Dagegen aus der Bistumszeit ein Rathaus im Stil der Spätrenaissance, das in Kunstbüchern abgebildet wird, einige Kirchen aus dem österreichischen Barock, ferner die für diese Zeit typischen Giebelhäuser, die hohen Torbögen und schmiedeeisernen Straßenbrunnen.
Um die Jahrhundertwende kamen bei einer Zivilbevölkerung von rund 25 000 Seelen mehr als ein Drittel dieser Zahl als Militärpersonen hinzu, in Uniform oder sonstwie zur Militärverwaltung gehörig. Außer diesen gab es kaum Fremde in der Stadt. Touristen hatten damals angefangen, Reste des Mittelalters im ursprünglichen Deutschland, im Westen und Südwesten, zu beschreiben und neu zu entdecken. Nach Neiße kamen sie nicht. Zu den Kurorten in den Bergen, diesseits und jenseits der Grenze, den Mineralquellen und Heilanstalten führen die Schnellzüge in direktem Durchgangsverkehr, meist ohne Neiße zu berühren.
Die Reisenden kamen nicht, auch weil der Ruf der Stadt als eines gewaltigen Militärlagers den Besuch nicht gerade anziehend erscheinen ließ. Die Rekruten, die ausgebildet wurden, kamen in der Mehrzahl aus den rein polnischen Dörfern im Osten und aus Elsass-Lothringen, denen preußischer Schliff hier beigebracht werden sollte. Es schien manchmal, als ob der Zivilist auf der Straße sich dessen bewusst sei, dass er eigentlich nur geduldet wurde. Die Leute gingen sehr behutsam und zugleich scheu, und sie verschwanden sehr schnell in den Haustoren, oft wie weggefegt, als hätte sie ein Trompetenstoß getroffen von den Kasematten her.
Es war keine direkte Bedrohung. Die Sonne schien wie überall, und von den Dämmen der Wallgräben konnte man das Blau der Bergkette sehen; aber es lag eine gewisse Eigenart in der Luft. Das war es, was mein Großvater mütterlicherseits nicht ertragen konnte. Er lebte in Breslau und war an der Schlesischen Zeitung beschäftigt. Als er starb, erschien die Zeitung mit einem breiten Trauerrand, das Einzige, was meine Mutter als Erinnerung an ihn aufbewahrt hatte; sie hatte die Zeitung aber nie gelesen, ich übrigens auch nicht. So wusste sie nicht, was er an der Zeitung zu tun gehabt und mit wem er Umgang hatte. Obwohl er ihr zugetan gewesen sein soll, ist er für sie ein völlig Fremder geblieben, den sie nur selten bemerkt hat und nur bei besonderen Gelegenheiten, so zum Beispiel als ihre Geschwister der Reihe nach innerhalb einer Woche an der Cholera starben. An diese Woche erinnerte sich die Mutter und auch an den Großvater, der zu Hause geblieben war. Sonst wird er die Abende mit Freunden verbracht haben. Es wurde davon gesprochen, dass er sich auf der Sternwarte der Universität, in der Freizeit mit Astronomie beschäftigte, eine Wissenschaft, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch als Scharlatanerie angesehen wurde. Auf meine neugierigen Fragen nach dem Großvater – ich habe ihn nie gesehen, er lebte schon damals nicht mehr – hat mir die Mutter keine klaren Antworten geben können, nur dass er sehr eigenartig gewesen sei, sich auch nicht darum gekümmert habe, dass die Kinder lesen und schreiben lernten; die Mutter hat es selbst erst sehr viel später in der Uhrmacherwerkstatt des Vaters nachgeholt.
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