Ein Jagdhorn ertönte. Jake blickte über die Schulter und sah eine Gruppe von Reitern zwischen den Bäumen hindurch auf sich zu galoppieren, und da geschah es: Sein Fuß blieb an einer der Wurzeln hängen, Jake flog in hohem Bogen durch die Luft, machte einen unfreiwilligen Salto und rollte krachend durch das dornige Unterholz, bis er schließlich gegen einen Baumstamm prallte.
Jake öffnete die Augen und blinzelte ins grelle Mondlicht, das durch die Tannenzweige über ihm drang. Das Schwert hatte er bei dem Sturz verloren. Er war also nicht nur unbewaffnet, er kam sich auch noch unendlich dumm vor – wie war er nur auf die Idee gekommen, dass er es allein mit Minas gesamter Eskorte hätte aufnehmen können, in einem fremden Land, in einer ihm fremden Epoche?
Schritte näherten sich, und ein Schatten brach aus dem Unterholz. Es war der Soldat, neben dem Jake auf dem Pritschenwagen gesessen hatte. Mit ausdruckslosen Augen zog er sein Schwert und machte sich zum Todesstoß bereit.
Da erwachte Jakes Überlebensinstinkt. Er sprang auf die Beine, griff nach einem auf dem Boden liegenden Ast und schlug ihn seinem Angreifer mit aller Kraft gegen die Schläfe. Jake hörte ein Knacken, die Augen des Jungen rollten nach oben, dann fiel er hintenüber und knallte mit dem Kopf gegen einen Baum. Jake wollte schon nachsehen, wie schwer er verwundet war, da bemerkte er, dass seine Augen halb offen standen und leicht flackerten. Er war also noch am Leben.
»Sorry, aber du hast angefangen«, murmelte Jake, hob sein Schwert auf und rannte weiter. Wieder schaffte er es irgendwie, den Griff der Waffe in seinem Umhang zu verknoten. »Was ist bloß los mit mir?«, fluchte er und riss das verhedderte Stück Stoff kurzerhand ab.
Das Jagdhorn ertönte ein zweites Mal. Die Hufschläge waren jetzt so nahe, dass er das Schnauben der Pferde hören konnte. Jake spürte seinen Puls bis in die Schläfen. Keuchend hastete er weiter, doch eines der Pferde hatte ihn bereits eingeholt – aus dem Augenwinkel sah er den Schweiß auf der Flanke des Tieres im Mondlicht glänzen. Jake drehte den Kopf und erblickte die geisterhafte Silhouette des Reiters, die sich scharlachrot vom Dunkel der Nadelbäume abhob, darüber der scharfe Umriss einer todbringenden Axt, die auf seinen Kopf niederfuhr.
Ein Kaleidoskop von Bildern zog vor Jakes innerem Auge vorbei: seine Eltern, sein Bruder Philip, das Reihenhaus in London, das Trampolin im Garten, Jakes Zimmer, die letzte Geburtstagsparty, die Korridore in der Schule, die er besuchte, dann wieder sein Bruder …
Die Schneide war nur noch Millimeter von seiner Stirn entfernt, da blieb die Zeit plötzlich stehen.
Nein, nicht die Zeit, sondern die Axt. Jake blickte auf: Die Augen des Reiters waren weit aufgerissen, und er sackte zur Seite. Aus seinem Rücken ragte ein Dolch.
»Schnell, hier rüber!«, rief eine Stimme wie aus dem Nichts.
Jake wirbelte herum und sah einen Reiter auf einem weißen Pferd auf sich zurasen. Er streckte ihm eine Hand entgegen. »C’est moi, Topaz!« , rief die Gestalt.
Jakes Herz machte einen Satz. Topaz trug einen Umhang und eine Maske, die ihr Gesicht verhüllte, aber die goldenen Locken, die darunter hervorlugten, waren unverkennbar. Er sprang auf die Füße, packte Topaz’ Hand und schwang sich hinter ihr in den Sattel.
»Halt dich gut fest«, rief Topaz atemlos, dann gab sie ihrem Pferd die Sporen, und sie preschten tiefer in den Wald hinein. Jake war nicht gerade ein erfahrener Reiter, aber einer von Philips Freunden hatte ein eigenes Pferd gehabt, und von ihm hatte Jake zumindest die Grundlagen gelernt, Schritt, Trab und ein bisschen Galopp, aber nicht bei diesem halsbrecherischen Tempo, und schon gar nicht war er jemals zuvor auf einem Pferd über ein Hindernis gesprungen. Also konzentrierte er sich einfach darauf, sich festzuhalten.
Die anderen Reiter waren ihnen dicht auf den Fersen, und Jake konnte ihre Rufe hören.
»In der Satteltasche sind Feuerwerksraketen!«, rief Topaz ihm zu, als sie gerade über einen umgestürzten Baum sprangen.
»Feuerwerk?«, fragte Jake verwundert zurück.
»Eine lange Geschichte. Zünde einfach eine an. Damit erschrecken wir ihre Pferde.«
Jake griff in die Satteltasche und zog ein Bündel Raketen hervor.
»Irgendwo müssen auch Zündhölzer sein«, meinte Topaz.
»Ich habe einen Feuerstein«, erwiderte Jake atemlos.
Topaz bremste etwas ab, damit Jake die Lunte anzünden konnte, dann warf er die Rakete in die Luft. Ein lautes Heulen ertönte, gefolgt von einem grellen Lichtblitz, dessen indigofarbene Funken zwischen den Bäumen hindurch in alle Richtungen schossen.
Zwei der Pferde stiegen wiehernd hoch und warfen ihre Reiter ab. Doch auch Topaz’ Stute war von dem Knall erschreckt worden, sodass sie alle Mühe hatte, das Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Jake feuerte eine weitere Rakete ab und ließ eine Milliarde glitzernder blauer Funken und grellweißer Sterne auf ihre Verfolger herabregnen. Die Dritte war so laut und hell, dass Minas Eskorte die Jagd schließlich abbrechen musste.
Die zu Tode erschreckte Stute ging durch und preschte wie von Sinnen zwischen den Baumstämmen hindurch, doch schließlich gelang es Topaz, sie zu beruhigen, und sie galoppierten weiter dahin, durch tückisches Unterholz, über mondbeschienene Wiesen, über Hecken und Bachläufe hinweg, und Jake genoss alles in vollen Zügen – den Wind, der ihm ins Gesicht peitschte, Topaz’ Duft in seiner Nase, das Abenteuer.
»Charlie und ich sind euch seit dem Ausgang des Tunnels gefolgt«, erklärte Topaz keuchend. »Wir wollten den richtigen Moment abwarten. Mina Schlitz ist niemand, mit dem man sich leichtfertig anlegen sollte.«
»Du kennst sie?«
»Wir haben eine gemeinsame Geschichte«, antwortete Topaz nur geheimnisvoll und steuerte ihre Stute auf ein Tal zu.
Schließlich erreichten sie eine Ansammlung alter Bauernhäuser neben einem Fluss. Sie stiegen ab, und Topaz überprüfte, ob ihnen jemand gefolgt war.
»Ist es schlimm?«, fragte sie Jake und reichte ihm ihren Schal. »Verbinde die Wunde damit.«
Jake zögerte.
»Nimm schon!«, beharrte sie. »Ich habe heute Abend keine gesellschaftlichen Verpflichtungen mehr.«
Jake gehorchte schließlich und wickelte das Seidentuch fest um den Schnitt in seinem Arm.
»Folge mir«, sagte Topaz und ging auf die Häuser zu. »Du siehst ganz anders aus mit den kurzen Haaren«, meinte sie. »Verwegener.«
»Ich bin so froh, dich am Leben zu sehen«, erwiderte Jake mit pochendem Herzen und hoffte, Topaz würde irgendwie auf seinen Kommentar reagieren, am besten, ihn in die Arme schließen. Sie tat es nicht.
»Was Nathan widerfahren ist, wissen wir nicht«, sagte sie stattdessen und mäanderte zwischen ein paar Heuballen hindurch, bis sie vor einer Scheune standen. Dort angelangt, klopfte Topaz in einer Art Morsecode gegen das Tor.
»Er kam zum Schiff zurück und hat mir das hier gegeben«, sagte Jake und deutete auf seine zerfetzte Kutte und den verbeulten Brustpanzer.
»Wir haben uns schon gefragt, wo du die Sachen herhast.«
Unterdessen ertönte als Antwort eine Abfolge von Klopfzeichen aus dem Schuppen.
»Er war ziemlich übel zugerichtet«, sprach Jake weiter, »und hat sich ihnen schließlich ausgeliefert.«
»Dann haben sie Paolo wahrscheinlich auch gekriegt«, sagte Topaz mit einem Seufzen. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass er sich im Kampf besser gehalten hat als Nathan.« Wieder klopfte sie einen bestimmten Rhythmus an das Scheunentor, wieder kam eine codierte Antwort.
»Jetzt mach schon auf, Charlie!«, knurrte Topaz ungeduldig.
Ein hölzerner Riegel wurde beiseitegeschoben, das Tor schwang auf, und Jake hörte einen schrillen Begrüßungsschrei, mit dem Mr Drake aufgeregt einmal im Kreis durch das Innere des kleinen Heuschobers flog.
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