»Ich muss zugeben, ganz im Gegensatz zu Topaz hätte ich nicht darauf gewettet, dass du es schaffst«, ließ Charlie ihn wissen und schob seine Brille zurecht.
Mit einem breiten Grinsen drehte Jake sich zu Topaz um, die sich gerade die Maske vom Kopf zog. Sie nahm ihren Umhang ab, und Jake konnte sie in ihrer vollen Pracht bewundern. Nach den zwei Tagen, die er sie nicht gesehen hatte, erschien sie ihm mehr denn je wie eine Göttin. Ihre blauen Augen strahlten noch heller als zuvor, und ihre Wangen leuchteten nur so von den Aufregungen der vergangenen Stunde. Nichts hätte Jake lieber getan, als ihr die Arme um den Hals zu schlingen, aber er entschied sich, seine Wiedersehensfreude lieber an Charlie auszuleben, und schloss ihn in eine kräftige Umarmung.
»Danke, dass ihr mich gerettet habt! Danke euch beiden!«, rief er.
Charlie warf Topaz einen fragenden Blick zu, während Jake ihn beinahe erwürgte.
»Ich habe in der Zwischenzeit einiges herausgefunden«, verkündete Jake und ließ Charlie endlich los. »Ihr werdet beeindruckt sein. Es gibt jede Menge neue Informationen.«
»Sag uns zuerst«, fiel Topaz ihm ins Wort, »ob du Prinz Zeldt gesehen hast. War er in Venedig? Wurde sein Name erwähnt?«
»Nun, gesehen habe ich ihn nicht«, erwiderte Jake, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als sich in Festungen zu schleichen, um dort finstere Feinde auszuspionieren, »aber dieser von Bliecke bringt gerade Nathan und Paolo zu ihm. Er hält sich in einem Schloss namens Schwarzheim auf.«
»Schloss Schwarzheim! Wusste ich’s doch«, meinte Charlie und schlug mit der Faust gegen das Scheunentor. »Hab ich’s nicht gesagt?« Dann wandte er sich an Jake: »Man weiß nie, wo sich der Kerl gerade versteckt hält. In jedem Winkel der Geschichte hat er einen Unterschlupf, und es heißt, Schloss Schwarzheim – den Namen hat natürlich er sich ausgedacht –, sei der schrecklichste von allen.«
»Was hast du sonst noch herausgefunden?«, fragte Topaz mit einem Anflug von Ärger in der Stimme.
Jake atmete einmal tief durch und blickte den beiden ernst ins Gesicht. »Mina Schlitz sagte, es blieben nur noch ›vier Tage bis zur Apokalypse‹.«
Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Mr Drake kniff die Augen zusammen und blickte zwischen den dreien hin und her.
»Welche Apokalypse?«, hakte Topaz schließlich nach.
Jake zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Und das hat sie gestern gesagt?«, fragte Topaz weiter.
Jake nickte.
»Dann bleiben uns also noch drei Tage …«
Topaz wechselte einen Blick mit Charlie und wandte sich dann wieder an Jake. »Am besten erzählst du uns alles, was du weißt.«
17

DIE DUNKLE DYNASTIE
Jake wiederholte jedes Detail, das sich in den letzten beiden Tagen zugetragen hatte – angefangen von den in Kutten gehüllten Männern, die die Campana gestürmt hatten über die Geheimtür in dem Beichtstuhl im Markusdom bis hin zu den Zeichnungen der Architekten und der Ankunft von Mina Schlitz. Er berichtete von dem Tunnel unter Venedig, der Reise nach Bassano, von dem unheimlichen Talisman Kant und den beiden ominösen Glasbehältern und zeigte ihnen zum Abschluss das Stück Pergament mit der Gästeliste für die Konferenz auf Schloss Schwarzheim, das er aus Minas Pavillon gestohlen hatte.
Charlie und Topaz überlegten eine ganze Weile, bevor sie wieder etwas sagten.
»Diese Zeichnungen von den Gebäuden«, fragte Charlie schließlich, »wie haben die ausgesehen?«
»Gruselig, wie eine mittelalterliche Endzeitvision«, antwortete Jake.
»Die armen Architekten«, meinte Topaz kopfschüttelnd. »Wir werden sie da rausholen müssen.«
»Und über jeder der Zeichnungen stand das Wort Superia?«, fragte Charlie weiter.
Jake nickte.
»War auf irgendeiner davon auch ein Berg abgebildet? Der Gipfel von Superia?«
»Ich habe zumindest keinen gesehen.«
»Und Talisman Kant?«, warf Topaz ein. »Du hast gesagt, Mina hätte ihm für die beiden Glasfläschchen eine ganze Truhe voll Gold gegeben.«
»Für ein paar Gramm Bienenwachs und Talkum«, ergänzte Charlie trocken.
»Ich habe nur gesagt, dass das Zeug so ähnlich aussah«, verteidigte sich Jake.
»Ziemlich teuer für Bienenwachs und Talkum, würde ich meinen«, gab Charlie zu bedenken.
»Und du kennst diesen Kant?«, fragte Jake Topaz.
»Ich habe nie persönlich seine Bekanntschaft gemacht«, erwiderte sie, »aber ihm eilt ein gewisser Ruf voraus. Er ist ein unfassbar grausamer Mensch, verdorben bis ins Mark. Nennt sich Wissenschaftler und führt Experimente an seiner eigenen Familie durch – seinen Sohn hast du ja gesehen. Seiner Frau erging es noch schlimmer; sie hat beide Beine in einem Säurebad verloren.«
»Steht er im Dienst von Prinz Zeldt?«
»Ursprünglich war auch er ein Geschichtshüter«, antwortete Charlie, »aber das ist lange her. Als man herausfand, dass er mit Iwan dem Schrecklichen in Korrespondenz stand und Folterinstrumente für ihn entwickelte, war klar, dass ihm andere Dinge am Herzen liegen als das Wohl der Menschheit, und er wurde sofort ausgeschlossen. Seitdem arbeitet er für jeden, in jedem Zeitalter, vorausgesetzt, der Preis stimmt. Zeig mir noch mal diese Liste.«
Jake reichte ihm das Pergament.
»Gästeliste der Superia-Konferenz …«, murmelte Charlie nachdenklich. »Da stehen einige illustre Namen drauf.«
»Wer sind diese Leute?«, fragte Jake.
»Ich kenne ein paar der Namen. Manche von ihnen gehören zu den reichsten Menschen im sechzehnten Jahrhundert, Kaufleute, Händler, Minenbesitzer … Die Anmerkungen geben Aufschluss darüber, womit sie ihr Geld verdienen. Was zum Teufel hat Zeldt bloß vor? Die Sache scheint mir ungefähr so klar wie ein Nebeltag in London.«
»Warte, lass mich mal einen Blick drauf werfen«, sagte Topaz und nahm die Liste. Ihr war ein Gedanke gekommen. » Mon Dieu!« , rief sie plötzlich. »Wie blind wir waren! Die Antwort ist direkt vor unserer Nase: Findet Gipfel von Superia – Gästeliste der Superia-Konferenz . Bei dem Gipfel handelt es sich nicht um einen Berg, sondern um diese Konferenz!«
Charlie entriss ihr die Liste und ging sie noch einmal durch. »Mademoiselle St. Honoré, ich muss sagen, Ihr habt Euch selbst übertroffen.«
»Jetzt haben wir doppelten Grund, nach Schloss Schwarzheim zu fahren, und das schnell«, sagte Topaz entschlossen und packte eilig ihre Sachen zusammen.
»Wo ist dieses Schloss?«, fragte Jake.
» En Allemagne , in Deutschland. Eine Zweitagesreise von hier entfernt, jenseits der Alpen. Wir dürfen keine Sekunde mehr verlieren. Charlie, hast du die Achse schon repariert?«
»Du hast zwar das Superia-Rätsel gelöst«, erwiderte Charlie achselzuckend, »aber was technische Dinge angeht, bin ich immer noch der unangefochtene Meister.«
»Das müsstest du gar nicht sein, wenn du dich nicht von diesem Händler in Padua hättest übers Ohr hauen lassen.« Topaz wandte sich an Jake. »Er hat unser ganzes Geld für einen Haufen Holzschrott ausgegeben.«
»Und für zwei der besten Pferde, die ich je zu Gesicht bekommen habe«, verteidigte sich Charlie.
»Ich habe genug Geld«, warf Jake ein und zeigte ihnen den Lederbeutel, den Nathan ihm gegeben hatte.
Topaz spähte durch ein Astloch nach draußen, um zu überprüfen, ob die Luft rein war, dann gingen sie zu dem reparierten Pritschenwagen. Jake fand, dass er eigentlich recht ordentlich aussah. Daneben standen Topaz’ Stute und zwei wunderschöne kastanienbraune Pferde und tranken Wasser aus einem Trog.
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