Als die Schreie schließlich erstarben, nahm der Fürst wieder auf seinem Thron Platz. »Womöglich verstand er mich miss, als ich sagte, das Abendessen werde auf der anderen Seite serviert … Er war das Abendessen.« Sein Blick wanderte zu Nathan und Paolo. »Das Leben, es ist flüchtig wie der Moment«, philosophierte er mit nachdenklicher Stimme. »Man sollte jeden einzelnen davon in vollen Zügen genießen.«
»Da wir gerade dabei sind, einander Ratschläge zu erteilen«, sagte Nathan in die entstandene Stille hinein, »der Agent, der Eurem Büttel durch die Lappen gegangen ist – er ist mit Abstand der beste, den die Welt je gesehen hat. Euer Schicksal ist besiegelt – nehmt Euch Eure eignen Worte zu Herzen und genießt die Zeit, die Euch noch bleibt.«
Zeldt lächelte dünnlippig und erteilte dem Wächter seine weiteren Befehle. »Bringt sie unter den Berg. Werft sie ins Verlies.«
Paolo begann unkontrolliert zu schluchzen, während der Wächter sie davonzerrte, und Nathan rief über die Schulter zurück: »Ihr glaubt mir nicht? Wartet’s nur ab. Jake Djones ist der Phoenix, neben dem alle anderen Agenten der Geschichtshüter verblassen wie harmlose Fünkchen, und er wird kommen, um Euch zu holen. Seid gewarnt: Er ist schnell wie der Wind, gerissen und erbarmungslos wie ein hungriges Raubtier!«
16

EINE BEGEGNUNG IM WALD
Jake stolperte über eine Zeltspannleine und fiel der Länge nach hin. Sein Knie krachte schmerzhaft gegen einen Stein, aber er gab keinen Ton von sich. Stattdessen blickte er sich nur kurz um, ob jemand ihn gesehen hatte, und stand lautlos wieder auf.
Es war kurz vor zehn Uhr nachts, und die meisten der Wachen schliefen. Nur am Rand des Lagers standen drei Wachposten mit ihren Laternen im Mondlicht.
Jake hielt sich in den Schatten der Zelte verborgen und beobachtete Minas Pavillon. Drinnen flackerte Kerzenschein, und Jake sah wie in einem Schattenspiel, wie Talisman Kant und Mina Schlitz zu Abend speisten. Schließlich erhob sich Kant, machte eine Verbeugung und ging. Jake wartete, bis er an seinem Planwagen angelangt war, die kleine Leiter hinaufkletterte und hinter dem Vorhang verschwand. Jetzt war der Moment zu handeln.
Mit zitternder Hand zog Jake den Feuerstein hervor, den Nathan ihm gegeben hatte. Er kniete sich hin, entzündete damit ein Bündel trockenes Gras und steckte mit der knisternden Flamme das Zelt in Brand, hinter dem er sich versteckt hatte. Die Zeltplane fing sofort Feuer, und wenige Momente später erleuchteten die Flammen den gesamten Lagerplatz.
Alles geschah gleichzeitig: Die Soldaten kamen Befehle brüllend aus ihren Zelten gestolpert, die Wachposten rannten zum Lager zurück, und alle machten sich sofort daran, den sich schnell auf die anderen Zelte ausbreitenden Brand mit Wasser aus dem Fluss zu bekämpfen.
Als Jake Mina im Morgenmantel aus dem Pavillon auf die brennenden Zelte zueilen sah, huschte er wie ein Schatten durch die Dunkelheit, um die Rückseite von Minas Pavillon herum und schlüpfte hinein.
Das Zelt war nur spärlich möbliert. Mit rasendem Puls ließ Jake den Blick durch den Innenraum schweifen, auf der Suche nach dem kleinen silbernen Kästchen. Er sah einen einfachen Sekretär, eine kleine Kommode und mehrere Tierpelze, die auf dem Boden ausgebreitet lagen. Auf dem Sekretär stand eine Porzellanschale mit grüner Tinte, darin ein Federkiel und daneben ein frisch beschriebenes Stück Pergament. In der Überschrift entdeckte Jake ein vertrautes Wort:
Gästeliste der Superia-Konferenz, Schloss Schwarzheim
Darunter stand eine lange Liste mit Namen aus vielerlei Gegenden: Italien, Spanien, Russland, Niederlande … und daneben Bemerkungen wie: Gold, Zinn, Getreide, Pelze und so weiter. Jake faltete das Pergament und steckte es ein.
Doch eigentlich war er wegen etwas ganz anderem hier. Das silberne Kästchen! Eilig durchsuchte er die Schubladen der Kommode – nichts. Seine Anspannung wuchs; er wirbelte herum, und da sah er es endlich, mitten auf Minas Feldbett. Er öffnete die kleine Kassette. Zwei Glasbehälter kamen zum Vorschein, der eine zylindrisch, ohne erkennbare Ober-oder Unterseite und versiegelt, mit einer zähen, bienenwachsähnlichen Flüssigkeit darin, der andere ein kleines, mit einem Korken verschlossenes Fläschchen, in dem sich ein weißes Pulver befand. Jake nahm es heraus und betrachtete den Inhalt genauer. Das Pulver sah aus wie Talkum.
Da sah er ein weiteres kleines Kästchen neben Minas Kopfkissen, und als er die rote Schlange bemerkte, die lautlos daraus hervorkroch, ließ er vor Schreck das Fläschchen mit dem Pulver fallen. Glücklicherweise blieb es ganz, und Jake wollte es gerade aufheben, da fauchte die Schlange plötzlich, und er hörte das Geräusch sich nähernder Schritte. Gerade noch rechtzeitig kauerte er sich in eine dunkle Ecke und bedeckte sich, so gut es ging, mit einem der Tierfelle.
Mina kam herein, zog ein Paar Lederhandschuhe aus ihrer Kommode und wollte schon wieder nach draußen gehen, als sie plötzlich innehielt, als hätte sie gemerkt, dass etwas fehlte. Ganz langsam drehte sie sich um, sah das verkorkte Fläschchen auf dem Boden liegen und die geöffnete silberne Kassette auf ihrem Bett. Schließlich fiel ihr Blick auf ihre rote Schlange, die sich auf den Boden fallen ließ und züngelnd auf einen eigenartig aufgehäuften Pelz zukroch.
Durch einen schmalen Spalt beobachtete Jake aus seinem Versteck heraus die Schlange. Dann hörte er das schaurige Geräusch, mit dem Mina ihr Schwert aus der Scheide zog.
Mit einem Schrei sprang Jake unter der Tierhaut hervor, stieß die Kommode um, sodass sie Mina den Weg versperrte, und stürzte sich zwischen den Zeltplanen hindurch ins Freie. Draußen riss Jake drei Spannleinen aus ihrer Verankerung, sah, wie der Pavillon in sich zusammensank, und rannte los – doch er kam nicht weit, denn ein Bein hatte sich in den losen Leinen verfangen. Hastig machte er sich los, sprang wieder auf die Beine und sprintete auf das rettende Dickicht des Waldes zu.
»Haltet ihn!«, brüllte Mina, während sie sich aus ihrem eingestürzten Pavillon befreite.
Fünf der Kuttenmänner machten sich sofort an die Verfolgung, rissen noch im Lauf Bogen und Pfeile von einem Ständer und jagten Jake hinterher.
Als er den Waldrand erreicht hatte, blieb er keuchend stehen und schaute zurück: Aus drei Richtungen näherten sich seine Verfolger über die mondbeschienene Lichtung. Mit leicht zitternder Hand zog er sein Kurzschwert, doch die Parierstange verfing sich in seinem Umhang. Während er mit aller Kraft daran zog, hörte er plötzlich ein Pfeifen. Er blickte auf und sah, wie ein Pfeil sich in den Baum direkt neben ihm bohrte. Jake stand einen Moment lang wie gelähmt da und sah schon die zweite Salve durch die Luft sirren. Eines der Projektile flog genau auf ihn zu, und nur einen Wimpernschlag später spürte Jake einen Schlag gegen die Brust wie von einem Schmiedehammer, dann prallte das Geschoss mit einem hohlen Scheppern von seinem Harnisch ab.
Endlich wirbelte er herum und rannte in den Wald, Hände und Unterarme erhoben, um seine Augen vor den peitschenden Ästen zu schützen. Weitere Pfeile schlugen um Jake herum ein, während seine Füße sich blind einen Weg durchs Dickicht bahnten. Dann ein weiteres Pfeifen, näher diesmal, gefolgt von dem Geräusch von reißendem Stoff. Jake spürte einen brennenden Schmerz – ein Streifschuss hatte seinen Arm gleich oberhalb des Ellbogens aufgeschlitzt. Im Laufen befühlte er die Wunde und spürte warmes Blut daraus hervorsickern, doch das Adrenalin in seinen Adern trieb ihn weiter ohne zu straucheln über den tückischen Waldboden.
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